INTERVIEW: Der §218: „Alibi für fehlende soziale Hilfen“
■ Die Strafverteidigerin Ulrike Kolneder-Zecher spricht dem Verfassungsgericht die Kompetenz über den §218 ab
Morgen verhandelt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Eilverfahren über die einstweilige Anordnung, die das Inkrafttreten der neuen Fristenregelung mit Beratungspflicht verhindern soll. Ulrike Kolneder-Zecher, Vorstandsmitglied der „Vereinigung Berliner Strafverteidiger“, hält das Verfassungsgericht für die falsche Instanz, um über das Selbstbestimmungsrecht der Frau zu verhandeln.
taz: Nach Meinung von 241 Unionsabgeordneten sowie der Bayerischen Landesregierung, die jeweils eine Normenkontrollklage in Karlsruhe eingereicht haben, ist die derzeit noch gültige Fristenregelung in den neuen Ländern verfassungswidriger als die verabschiedete Fristenregelung mit Beratungspflicht. Daher plädieren die Antragsteller dafür, daß mit einer einstweiligen Anordnung in der ehemaligen DDR das neue Abtreibungsrecht in Kraft treten soll. In den alten Bundesländern soll die Indikationslösung bestehenbleiben, bis über die Verfassungsmäßigkeit der Fristenregelung mit Beratungspflicht entschieden ist. Gibt es ein „mehr oder weniger verfassungswidrig“?
Ulrike Kolneder-Zecher: Nein, verfassungswidrig ist verfassungswidrig. Natürlich ist es schon ein Unterschied, ob eine Fristenregelung mit Beratungspflicht oder eine Indikationslösung gilt. Die Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen sind da von verschiedener Intensität. Gerade aufgrund der Mißachtung jeglicher Freiheitsrechte halte ich jedoch beide Regelungen für verfassungswidrig. Mit dem vorliegenden Antrag wird an das BVerfG eine Prüfung herangetragen, zu der es, meiner Meinung nach, nicht befugt ist.
Warum nicht?
Das BVerfG hat die klassische Aufgabe, staatliche Eingriffe in die freie Lebensgestaltung jedes Bürgers und jeder Bürgerin abzuwehren. Der vorliegende Antrag verlangt jedoch die Prüfung, ob der Staat strafen muß. Und das ist das Absurde an der ganzen verfassungsrechtlichen Diskussion um den Paragraphen 218. Denn das Absehen von Strafe, wie es mit der Fristenregelung gefordert wird, ist das Gegenteil eines staatlichen Eingriffs.
Nach Ihrer Meinung ist also schon die Karlsruher Entscheidung von 1975 anzuzweifeln?
Mit dem Urteil von 1975 hat das BVerfG seine Kompetenz überschritten. Auch bei der jetzigen Verhandlung kann das BVerfG den Gesetzgeber meiner Meinung nach nicht von der Beseitigung von Strafvorschriften abhalten. Vor allem vor dem Hintergrund, daß der Gesetzgeber, quer durch alle Parteien, zu einer neuen Regelung gefunden hat.
Grundsätzlich muß festgehalten werden, daß das Recht auf Abtreibung ständig mißverstanden wird als das Verfügungsrecht über menschliches Leben. Das Recht auf Abtreibung ist aber ein Recht, das der Glaubens- und Gewissensfreiheit gleichkommt. Daraus erschließt sich, daß auch das neue Recht verfassungswidrig ist. Und zwar, weil es den Abbruch immer noch unter Strafe stellt und weil es die betroffenen Frauen dazu nötigt, sich einer Beratung zu unterziehen.
In der Diskussion um das Abtreibungsrecht spielen moralische Aspekte eine große Rolle. Daher wird das Verfassungsgericht bei seiner Verhandlung sicherlich keines Ihrer Argumente berücksichtigen.
Ich halte die Entscheidung durchaus für offen. Auch die Rechtsprechung muß Rücksicht auf gesellschaftliche Veränderungen nehmen. Seit 1975 sind immerhin ein paar Jährchen vergangen.
Wenn die Abtreibungsgegner schon die staatliche Pflicht verspüren, Frauen müßten davon abgehalten werden abzutreiben, dann sollen sie die Mittel hierfür gefälligst im sozialen und gesellschaftlichen Bereich suchen. Strafrecht dient hier doch nur als Alibi für das Defizit der wirksamen Hilfen. Letztendlich kann man es auf den Satz bringen, daß durch die Strafandrohung die soziale Pflichtversäumnis kompensiert werden soll. Interview: Karin Flothmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen