INTERVIEW: Die Revolte der Körper
■ Thomas Krüger (SPD), Jugendsenator in Berlin, über die vergessene junge Generation der Ostdeutschen und die verlorene ältere Generation
taz: Herr Krüger, Sie sind in der DDR aufgewachsen. War „Rechtssein“ in Ihrer Jugendzeit auch schon „in“?
Thomas Krüger: Rechts war man heimlich. Aber ich erinnere mich noch an eine Situation aus meiner Lehrlingszeit 1978 in Fürstenwalde. Damals fuhr ich mit ein paar Betriebsfunktionären nach Polen. Kaum waren wir über die Oder hinüber, fingen die SED-Genossen und FDGB-Gewerkschafter an, Nazi- Lieder zu singen. Es gab immer eine latente faschistische Haltung in der DDR, auch bei diesen SED-Leuten, die in Polen besoffen hinter den Reisebus gepinkelt und dabei das Horst- Wessel-Lied gegrölt haben. Aber die rechte Jugendbewegung hat sich erst in den achtziger Jahren herausgebildet. Da waren plötzlich junge Leute, die auch durch ihr Outfit deutlich gemacht haben, daß sie rechts stehen. Ende der Achtziger habe ich offene Jugendarbeit in Ost-Berlin gemacht. Schick fanden die Jugendlichen es nicht, rechts zu sein. Rechts sein bedeutete Revolte. Für die DDR war nicht der Faschismus das Problem, sondern der Antifaschismus.
Wie bitte?
Der Faschismus war im Sozialismus laut Parteiräson historisch überwunden. Die Gefahr für die Partei- und Staatsführung ging deshalb von einem sich emanzipierenden Antifaschismus aus. Der Antifaschismus war verfassungsrechtlich verankert, kodifiziert, und damit sollte dann auch Schluß sein. Ein Antifaschist, der den realen Sozialismus kritisierte, wurde zum Klassenfeind.
Sie meinen die Bürgerbewegung.
Ja. Die DDR konnte sich plötzlich ihres Antifaschismus nicht mehr sicher sein. Und deshalb war sie plötzlich auch nicht mehr in der Lage, sich mit diesen latenten rechten Tendenzen auseinanderzusetzen. Als ich Anfang der achtziger Jahre als Versicherungsvertreter gearbeitet habe, war ich in Hunderten von Wohnungen. Schönhuber und Strauß waren schon damals die Idole vieler Menschen. Die DDR-Bürger haben die Politik ihres Staates als repressiv erlebt. Repression war also gleich Antifaschismus.
Die meisten Randalierer in Rostock waren keine 20 Jahre alt. Der jüngste, den die Polizei verhaftet hat, war gerade erst zwölf. Viele reden schon jetzt von der verlorenen Jugend.
Verloren ist das falsche Wort. Die verlorene Generation der deutschen Einheit ist die Generation der über Fünfzigjährigen. Das sind die Menschen, die ihr Leben lang Kompromisse gemacht haben, die sich eingerichtet hatten im Sozialismus und die nun arbeitslos werden oder in den Vorruhestand gehen. Die Jugendlichen sind nicht verloren, sie wurden vergessen. Diese Generation macht jetzt auf sich aufmerksam: Wir sind noch da. Wir überraschen euch aus einer Perspektive, von der ihr geglaubt habt, daß sie schon längst hinter euch liegt.
Ihrer Meinung nach haben die Krawalle nichts mit der Asylgesetzgebung zu tun?
Unabhängig davon, daß die Asylfrage ein gravierendes Problem für die europäische Politik ist, halte ich den direkten Bezug zu den Ereignissen in Rostock für völlig überzogen. Wer vor dem Hintergrund der Ereignisse in Rostock, Cottbus oder Quedlinburg am Grundgesetz herumdoktert, der handelt grob fahrlässig. Der Schlüssel für die Ereignisse in Rostock und anderen Städten liegt in der Sozialpolitik und in der Jugendpolitik, nicht in der Asylpolitik. Der Stellenwert von Kindern und Jugendlichen im Prozeß der deutschen Einheit ist doch absolut gering. Alle reden vom Aufschwung. Aber die, die den Aufschwung entwickeln und fortschreiben sollen, die sind überhaupt kein Thema. In der Wirtschaftspolitik operiert man mit Kalkülen. Man berücksichtigt Faktoren, die wichtig sind: Gewinn, Rendite und so weiter. In der Jugend- und Sozialpolitik werden die Faktoren, die die Anteilsscheine auf die Zukunft sind, sträflich vernachlässigt.
Was tut der Berliner Jugendsenator, damit das, was in Rostock und anderen Städten passierte, sich nicht in seiner Stadt wiederholt?
Ich halte es für wichtig, vor allem im präventiven Bereich tätig zu werden. Ich muß eine akzeptierende Jugendarbeit entwickeln. Das heißt nicht, daß ich die Ideologie rechtsorientierter Jugendlicher transportiere. Wenn ich mit einer Gruppe rechtsorientierter Jugendlicher arbeite — ich sage ganz bewußt nicht rechtsradikal —, dann sind 70 Prozent der Gruppe mit einer Perspektive in einem demokratischen Gemeinwesen zu versehen. Man muß endlich begreifen, daß Rechtsorientierung eine Spielart der krisengeschüttelten Demokratien in Europa geworden ist. Etwa 70 Prozent einer solchen Gruppe bilden meist das latente, rechtsextreme Potential, 30 Prozent sind ideologisch absolut verfestigt und damit Bodensatz. Die kann ich nicht ändern, die muß ich dem Verfassungsschutz überlassen. Aber an den 70 Prozent muß ich mich abarbeiten. Denen muß ich eine Perspektive geben. Dazu brauche ich unkonventionelle Jugendarbeiter. Musik spielt eine große Rolle, Sport auch, viel mehr als bei linken Jugendlichen. Ich brauche ein integrierendes Modell. Ich muß gucken, ob ich arbeitslosen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz verschaffen kann. Ich muß ihnen helfen, soziale Beziehungen zu knüpfen.
Können Sozialarbeiter, die ja in der Regel eher linksliberal orientiert sind, mit rechten Jugendlichen überhaupt arbeiten?
Man kann die natürlich nicht alle über einen Kamm scheren. Aber es ist doch in der Regel so, daß linke Sozialarbeiter mit linken Jugendlichen linke Projekte machen. Die haben keine Antenne für diese rechte Jugendkultur: eigene Musik, eigene Kleidung, eigener Haarschnitt. Auf diese kulturelle Revolte sind die meistens nicht vorbereitet. Im Ostteil der Stadt gibt es aber viele Menschen, die dieser Kultur unvoreingenommener begegnen. Für uns arbeiten zum Beispiel arbeitslose Sportlehrer, die aufgrund alter Bekanntschaften Turnhallenwarte anrufen, mit ihren Skinheads dahingehen. Dann ziehen die schweren Jungs ihre Schnürstiefel aus und stehen plötzlich auf wackligen Beinen. Da beginnt die Sozialarbeit. Die körperliche Arbeit ist sehr wichtig. Die Revolte im Osten ist doch eine Revolte der Körper. Schon von daher ist der Vergleich mit 68 irreführend. Auch die Nazi-Kultur begann als archaisch ausgerichtete Jugendkultur. Das ist der Versuch, sich mit Stimme, Körper und Aura über den Graben zu helfen. Der Graben ist aber heute der Graben einer eisig gewordenen Wohlstandsgesellschaft und nicht der der Ideologien.
Weil rechtsradikale Jugendliche sich über den deutschen Graben helfen, wird inzwischen alle drei Wochen in Deutschland ein Mensch ermordet.
Das halte ich in der ganzen Debatte auch für fatal: Selbst Wolfgang Thierse hat den Blick auf die armen Ossis gelenkt. Kein Mensch guckt, wer eigentlich hinter den Wänden der Flüchtlingsheime sitzt. Die haben Todesangst. Jede Brandfackel ist ein Mordanschlag. Auf dem Hintergrund des organisierten Extremismus in Europa ist neben einer runderneuerten Sozialpolitik der Sicherheitspolitik deshalb ein sehr hoher Stellenwert beizumessen. Die Polizei im Osten ist noch schlecht ausgerüstet, sie hat zudem eine Beißhemmung. Die Angriffe auf die Sicherheitskräfte sind auch ein Angriff auf die Geschichte der Polizei, die früher Volkspolizei hieß. Das wissen die Beamten natürlich. Interview: C.C. Malzahn
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