INGE ROBERT UND LILLI NACHAMA SIND SEIT JAHRZEHNTEN STAMMGÄSTE IM CAFÉ KEMPINSKI, ABER FÜR ALLE VERÄNDERUNGEN OFFEN : Auf Holzstegen ging’s über das kriegszerklüftete Trottoir
VON ESTHER SLEVOGT
Die beiden eleganten blonden Damen gehören zu den auffälligsten Erscheinungen auf der Terrasse des Kempinski Hotels – beziehungsweise des Reinhardt’s, das diesen traditionsreichen Ort inzwischen bewirtschaftet. Makellos die Frisuren, die Garderobe perfekt auf die Nachmittagsstunde abgestimmt, zu der sie sich regelmäßig hier zum Kaffee einfinden. Wenn das Wetter entsprechend ist.
Lilli Nachama und Inge Robert kennen diesen Ort schon länger als ein halbes Jahrhundert. Das Hotel Kempinski wurde 1950 aus Mitteln des Marshallplans errichtet. Sie flossen damals in beträchtlichem Maße in den Wiederaufbau des zerstörten Boulevards, der zum Schaufenster des Westens werden sollte. Damals, als der schicke Hotelneubau sich am Kurfürstendamm Ecke Fasanenstraße zu erheben begann, stand um die Ecke noch die monumentale Ruine der Synagoge, 1912 eröffnet und während der Pogrome am 9. November 1938 zerstört. Neunzehn Jahre später wurde im Schatten der Synagogenruine in Anwesenheit des damaligen Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt der Grundstein für den Neubau eines Jüdischen Gemeindehauses gelegt. Der Kantor der jüdischen Gemeinde, Estrongo Nachama, hat die Zeremonie mit liturgischem Gesang begleitet.
Nachamas Witwe Lilli gehört nun bereits seit Jahrzehnten zu den Stammgästen des Kempinski. Bis zu Nachamas Tod vor zehn Jahren hat man sich hier regelmäßig auch zu dritt getroffen, erzählt ihre Freundin Inge Robert, deren Mann Rudolf ebenfalls zu den Gründervätern der jüdischen Nachkriegsgemeinde gehört.
Das Hotel Kempinski stand ebenso für die Rückkehr in ein normales Leben wie der Neubau des Gemeindehauses, das 1959 eingeweiht wurde. Doch waren die Gräben zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen damals tief. Spätestens bei der Frage des nichtjüdischen Gegenübers „Wo hast du gedient?“ hatte eine harmlose Kaffeehauskonversation mit Zufallsbekanntschaften ihre Grenze erreicht, sagt Inge Robert. Ihr Mann hatte wie Estrongo Nachama das Konzentrationslager Auschwitz überlebt.
Den Kurfürstendamm hat sie immer geliebt und nach dem Tod ihres Mannes eine kleine Wohnung hier bezogen, ein paar Häuser neben ihrem „Wohnzimmer“, dem Kempinski-Café. „Das hier ist ein Kiez wie jeder andere,“ sagt Inge Robert. „Jeder kennt jeden, man grüßt sich, wenn man sich sieht.“ Ihre Zeitung kauft sie schräg gegenüber beim kurdischen Zeitungshändler Serpil Albayrak. Der Supermarkt ihres Vertrauens befindet sich in der Uhlandstraße.
Sie erinnert sich gut, wie sie am Kurfürstendamm auf Holzstegen über das kriegszerklüftete Trottoir ging und die Geschäfte in Holzbuden untergebracht waren, bevor sie in die Erdgeschosse der wiederaufgebauten Häuser zogen. „Zwanzig war ich da“, sagt sie, und das Kempinski noch ein glamouröser Ort. Zu den Filmfestspielen stiegen internationale Stars hier ab. Zumindest an diesem Ort tat die Stadt noch so, als sei sie die Weltstadt, die sie bis 1933 war.
Einen Hauch davon kann man immer noch spüren, wenn man Lilli Nachama und Inge Robert in ihren perfekten Garderoben hier sitzen sieht. Zwischen Rucksacktouristen, die ihren Latte macchiato schlürfen, lässig gekleideten Leuten, die sich vom Shoppen erholen und zwischen Einkaufstütengebirgen Kuchen essen. Etwas im Hintergrund, nie in der ersten Reihe, sieht man die beiden Frauen im Gespräch vertieft oder die Passanten beobachten, die sie hier schon seit sechs Jahrzehnten vorübergehen sehen. „Alles muss sich immer verändern“, sagt Inge Robert lakonisch, „und das finde ich gut. Ob’s zum Guten oder zum Schlechten ist, weiß man immer erst hinterher.“