IN NEW YORK IST DIE WEIHNACHTSSAISON VOLL IM GANGE : Kein Trinkgeld für Dealer
OPHELIA ABELER
Die Vorweihnachtszeit in New York ist wirklich etwas Besonderes. Sie beginnt Ende November mit der Macy’s Thanksgiving Day Parade und ist ab da eine Aneinanderreihung von Superlativen. Der größte Baum, die meisten Lichter, die teuersten Shows und: die höchsten Trinkgelder. Nicht nur die 20 Prozent, die man hier sowieso auf alles gibt, ob Taxifahrt, Haarschnitt oder Valet Parking, also der Vorgang, wenn man einem wildfremdem Menschen, dessen Name nicht in der Versicherungspolice steht, die Autoschlüssel in die Hand drückt, damit er den Wagen für sehr viele Dollars die Stunde zum Verschwinden bringt.
Es geht um das holiday tipping derjenigen, die in der Dienstleistungsbranche arbeiten. Der rote Umschlag, der im Eingang liegt und an Jacqueline Marius adressiert ist, lag letztes Jahr schon mal dort, und ich wunderte mich bereits damals, wie die Post sich so vertun kann, die Adresse hat nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit meiner, der Name auch nicht.
Diesmal merke ich, der Umschlag ist gar nicht zugeklebt, eine Weihnachtskarte steckt darin. Jacqueline Marius schreibt, sie sei meine Zeitungsbotin und sie und ihre Familie wünschten mir und meiner Familie von Herzen das Beste. Ich stehe lange auf der Leitung, warum dann der Briefumschlag an sie adressiert ist und nicht an mich, aber Google hilft: Ich entdecke die Webseite emilypost.com, einen Tipguide. Zehn bis 30 Dollar Trinkgeld gelten zu Weihnachten als angemessen für Zeitungsausträger. Ich soll das Geld in den Umschlag stecken, dazu eine handschriftliche Dankesnotiz schreiben, „zwei, drei Sätze genügen“, frankieren und ab zur Post.
Ich bekomme sofort ein schlechtes Gewissen, den Umschlag letztes Jahr ignoriert zu haben. Ich weiß nicht, wie groß Jacqueline Marius’ Gebiet ist, aber was allein die Weihnachtskarten, die Adressaufkleber und die Textaufkleber gekostet haben werden! (Ja, der Text ist auf einen Aufkleber gedruckt und in die Karte geklebt, das alles handschriftlich zu machen, wäre kompletter Wahnsinn).
Auf emilypost.com steht auch, dass die normalen Postboten, also die vom US Postal Service, als Einzige kein Geld annehmen dürfen, sehr wohl aber „kleine Geschenke“, also „unter 20 Dollar“. 20 Dollar?!
Die Liste derjenigen, die in Amerika in der Vorweihnachtszeit Geldgeschenke erwarten dürfen, ist lang. Es stehen neben den Parkhausangestellten auch die Kita-Erzieherinnen darauf, und prompt bekomme ich eine E-Mail: „Weil so viele Eltern nach den Namen der Erzieherinnen gefragt haben, hier alle Namen und der jeweilige Rang (Head Teacher, Assistant, Sub).“
Sieben Namen. Mir schnürt es ein bisschen die Kehle zu. In Deutschland würde man sich an dieser Stelle vielleicht fragen, warum Eltern erst jetzt die Namen der Erzieherinnen ihrer Kinder erfahren – die Vornamen, wohlgemerkt.
Ich rechne nach dem Tipguide durch, was eine korrekte Summe wäre. Ich komme auf 300 Dollar für alle zusammen. Die Erzieherinnen haben mich übrigens ungefähr ein Jahr lang „Mom“ genannt. Mir macht das nichts aus, sie leisten gute Arbeit, finde ich, mein Kind geht gern in die Kita.
In der Vorweihnachtszeit erscheinen aber auch haufenweise Artikel zu Themen wie „wofür wir zu viel ausgeben“ oder „financial detox“. Seamless, der größte New Yorker Gastro-Lieferservice, wird besonders von jungen Leuten dafür verantwortlich gemacht, dass sie nie ein Eigenheim besitzen werden.
Das Verantwortungsgefühl für Servicepersonal, das Stundenlöhne von 2,80 Dollar bekommt, ist tief in der amerikanischen DNA verankert, ebenso wie die Liebe zum Bedientwerden und die Angst vor dem Schaden, den man erleiden könnte, wenn man nicht großzügig genug ist – unter die Autositze geklebte Kaugummis, bespucktes Essen, frisierte Rechnungen („Asshole tax“).
Dass jemand wie Bob Conway von T.G.I. Fridays beschließt, Trinkgelder abzuschaffen und seinen Kellnern 10 Dollar die Stunde zu zahlen, wird als radikaler Schritt gesehen. Es herrscht Uneinigkeit darüber, wer denn jetzt eigentlich der Arbeitgeber des Kellners ist und dessen Leistung bewertet und ob es nicht eine riesige Chance ist, in einem Beruf zu arbeiten, in dem man schon mal 500 Dollar die Stunde machen kann (wenn Matt Damon vorbeikommt).
Auf einer der Listen der Dinge, für die die Leute zu viel Geld ausgeben, standen auch Drogen, Kokain natürlich ganz oben. An sich teuer, nimmt man es vorwiegend beim Ausgehen und verträgt daraufhin Unmengen Alkohol, der auch wieder kostet. Marihuana hingegen rechnet sich, meint eine junge Frau: „Pot spart dir Geld, relativ egal, wie viel du dafür ausgibst. Es ist ein Investment, weil du zu Hause bleibst.“ Ein anderer Tipguide verrät mir: Dealer sehen sich eher wie Anwälte und Ärzte. Sie nehmen kein Trinkgeld.
■ Ophelia Abeler ist Kulturkorrespondentin der taz in New York