IN DER U-BAHN : Wie nie gesehen
In der U-Bahn gibt es kein Entrinnen. Die Augen, die Ohren und auch die Nase bekommen bisweilen Anblicke, Gespräche und Gerüche geboten, die den Wert des Tickets zur Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel weit übersteigen. Nie werde ich den bis auf die Knochen abgemagerten Mann vergessen, der wie eine zerbrechliche Frau aussieht und Knie und Ellenbogen gepolstert hat, um die Gelenke zu schützen. Unvergessen ist auch das „Halt’s Maul!“ einer Mutter zu ihrem kleinen Sohn, der sie nur darum gebeten hatte, ihm etwas vorzulesen. Eingebrannt in meine BVG-Erinnerungen hat sich auch der Geruch, der von der offenen Wunde auf dem Unterarm eines Mannes ausging, die so tief war, dass der Knochen durchschimmerte.
Im Laufe der Zeit schleicht sich eine gewisse Teilnahmslosigkeit ein. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht hinschaue, wenn es etwas zu sehen gibt. So wie neulich in der U1 Richtung Schöneberg. Obwohl auf einer langen Sitzbank noch Platz war, zogen es einige Fahrgäste vor, zu stehen und pikiert wegzuschauen. Auf der Bank hatte sich ein Mann der Länge nach ausgestreckt. Er hatte weder einen gefährlichen Hund dabei, noch saß eine Ratte auf seiner Schulter. Mit leicht angewinkelten Beinen lag er da, das Gesicht hatte er den Mitreisenden zugewandt, einen Arm hatte er unter den Kopf gelegt, um es bequemer zu haben. Er trug ein blaues T-Shirt und eine kurze blaue Sporthose. Der Mann schlief tief und fest.
Das war nicht das Problem. Das Problem war seine Hose. Sie gab den Blick frei auf seinen Hodensack. In jeder Kurve, in die sich die U-Bahn legte, schaukelten die Eier, dass es eine Freude war. Eine Frau, die neben mir saß, legte sich eine Hand als Sichtschutz vor die Augen. Ich aber musste immer wieder hinschauen, als hätte ich noch nie im Leben einen Hodensack gesehen.
BARBARA BOLLWAHN