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Archiv-Artikel

IN DEN USA HABEN SICH DIE POLITISCHEN KOORDINATEN VERSCHOBEN Erosion in der zweiten Amtszeit

Es ist ein Schlag ins Gesicht der christlich-konservativen Aktivisten in den USA: Mit der Nominierung von Harriet Miers für den freien Posten im Obersten Gerichtshof hat Präsident George W. Bush auf Nummer Sicher gesetzt. All die Hoffnungen, die die Konservativen in den nach seiner Wiederwahl im November vergangenen Jahres kraftstrotzenden Präsidenten gesetzt hatten, scheinen dahin. Zwar weiß niemand genau einzuschätzen, welche Linie eine Richterin Harriet Miers einschlagen wird – doch ein klar konservativer Kurs wie der der beiden Richter Antonin Scalia und Clarence Thomas, wie ihn sich die rechten Aktivisten gewünscht hatten, gilt als unwahrscheinlich.

Die Nominierung, offenbar eher dem Wunsch nach schneller Bestätigung durch den Senat geschuldet als ideologischer Überzeugung, spiegelt den Zustand der Bush-Regierung wieder. Hatten sich die Konservativen nach dem Sieg über John Kerry auf dem Weg totaler Hegemonie auch über den Tag hinaus gefühlt, so haben die scheinbar ausweglose Situation im Irak, die hohen Energiepreise und schließlich das Desaster von Hurrikan „Katrina“ Bushs Spielräume enorm beschnitten. Bushs ambitionierte Agenda für die zweite Amtszeit, die neben weiteren permanenten Steuersenkungen auch die Reform der Sozialsysteme und eben konservative Richternominierungen vorgesehen hatte, ist in sich zusammengefallen.

Gut möglich zwar, dass Miers und der neue Vorsitzende Richter John Roberts sich im Amt als konservativer entpuppen als heute abzusehen ist. Doch allein schon die Tatsache, dass Bush und sein Beraterteam inzwischen die Konfrontation mit den rechten Aktivisten weniger scheuen als die mit der Mitte, zeigt eine Verschiebung der politischen Koordinaten, die noch vor einem Jahr niemand erwartet hatte. Zu jauchzendem Frohlocken allerdings besteht für die Linke noch kein Anlass: Die demokratische Opposition hat zu den neuen Entwicklungen wenig bis gar nichts beigetragen. Um in absehbarer Zeit einen Machtwechsel zu schaffen, bedarf es mehr als nur der Erosion eines Präsidenten in der zweiten Amtszeit. BERND PICKERT