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Archiv-Artikel

IM SCHATTEN DES 11. SEPTEMBER IST JEDE KRITIK AN RUSSLAND VERSTUMMT Wohlwollendes Wegsehen

Wie Moskau das Problem in Tschetschenien löst, wird in nicht unbeträchtlichem Maße darüber entscheiden, ob es Russland jemals gelingt, den zähen Demokratisierungs- und Modernisierungsprozess doch noch erfolgreich abzuschließen. Dafür braucht Moskau mehr Hilfe denn je, ein offenes Wort von wohlmeinenden Nachbarn: Was in Tschetschenien passiert, ist Völkermord. Mit Terrorismusbekämpfung hat das nichts zu tun.

Es war Gerhard Schröder, der unter dem Schock des 11. September eine Neubewertung des Tschetschenienfeldzuges einklagte und damit die letzte Hürde für Putin auf dem Marsch in die Antiterrorkoalition beseitigte. Seither ist der Kremlchef ein fast zu verlässlicher Koalitionär und in Washington mehr geschätzt als Freund Gerhard, der sich scheut, mit Moskau Tacheles zu reden. Berlins Unbedenklichkeitsbescheinigung und Washingtons wohlwollende Duldung haben zu dem zu erwartenden Ergebnis geführt. Mord und Totschlag, Raub und Entführungen haben sich dramatisch verschärft. Moderate Verhandlungspartner werden systematisch beseitigt. Nur interessiert es keinen mehr. Den Beobachtern der OSZE, die sich mehr als moderat verhalten hatten, entzog der Kreml zum Jahresbeginn das Mandat. Gleichwohl applaudiert die neue west-östliche Wertegemeinschaft dem Partner zur Errichtung immer neuer potemkinscher Dörfer. Vorerst letzter Fassadenschwindel: ein Verfassungsreferendum im Angesicht von Bajonetten. Dessen Ausgang steht schon fest, den Ausschlag dürften die wahlberechtigten russischen Soldaten geben.

Den Gipfel des Zynismus erklomm am Wochenende Putins Verteidigungsminister Iwanow in München: Wer glaube, Russen kämpften in Tschetschenien gegen Tschetschenen, täusche sich … Aussichten einer friedlichen Lösung gibt es zurzeit nicht. Und sie schwinden noch – je mehr Moskau sich als Juniorpartner ins Fahrwasser Washingtons begibt und dessen Selbstgefälligkeit auf niederem Niveau kopiert. Viel haben sich Moskau und Berlin nicht zu sagen. Russland starrt wieder auf die USA. Ein gutes Wort sollte Putin für den in Ungnade gefallenen nachsichtigen Deutschen bei George Bush aber noch übrig haben. KLAUS-HELGE DONATH