Historikerin Dietrich zur Verzehrstudie: "Kein richtiges Essen im falschen"
Die Arbeits- und Alltagsbedingungen beeinflussen das Essverhalten, sagt die Historikerin Martina Kaller-Dietrich. Studien dazu nutzen nur den Krankenkassen.
taz: Frau Kaller-Dietrich, was halten Sie davon, dass sich die Politik des Themas Ernährung annimmt?
Martina Kaller-Dietrich: Mit Studien zu Ernährungsgewohnheiten wird bloß so getan, als würde ein Problem in Angriff genommen und könnte gelöst werden. Im Grunde wird von eigentlichen Problemen abgelenkt.
Fast jedes zehnte Mädchen zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr ist untergewichtig oder extrem untergewichtig. Mit dem Alter geht sinkt die Zahl der Untergewichtigen kontinuierlich. Während sich die meisten übergewichtigen Mädchen unter Hauptschülerinnen finden, gibt es unter den Gymnasiastinnen die meisten untergewichtigen Mädchen.
Insgesamt 12 Prozent aller Deutschen halten aus unterschiedlichen Gründen eine Diät ein. Vor allem Ältere tun dies oft aufgrund einer Erkrankung.
Eine besondere Ernährungsweise pflegen nur 4 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger. Den größten Anteil unter ihnen machen Frauen bis 35 Jahre aus. 1,6 Prozent aller Deutschen ernähren sich vegetarisch oder vegan.
65 Prozent der Frauen und 29 Prozent der Männer geben an, selbst für den Einkauf von Lebensmitteln verantwortlich zu sein. Je mehr Personen in einem Haushalt leben, desto seltener kaufen Männer ein. Lebensmittel werden am häufigsten in Supermärkten und dann in Discountern eingekauft. Mit dem Einkommen steigt der Anteil der Einkäufe auf Märkten, in Fachgeschäften und Reformhäusern.
Zwei Drittel der deutschen Frauen und ein Drittel der deutschen Männer sind davon überzeugt, gut oder sehr gut kochen zu können.
Wie sich das Rauchverbot auf das Essverhalten auswirkt, wird Gegenstand zukünftiger Erhebungen sein.
Wo liegen die?
Die meisten Menschen sind damit konfrontiert, keine Zeit und Gelegenheit zu haben, Essen zuzubereiten. Und keine Essenszeiten mehr zu haben führt dazu, ständig und überall zu essen. Heute geht es um Fett und Fastfood, im 19. Jahrhundert wurden Getreideesser zu Zuckeressern: Bei 12- bis 14-Stunden-Schichten gab es als schnellen Energielieferanten für Fabrikarbeiter eine Tasse Tee mit Zucker. In der Gegenwart sollte es also nicht nur um vermeintlich fette Kinder oder ungesunde Ernährung gehen, sondern auch um die Abhängigkeit von Arbeit, um Lebens- und Arbeitsformen.
Haben Studien zum Essverhalten nicht dennoch einen Nutzen für den Verbraucher?
Den haben sie für Kranken- und Vorsorgekassen. Für die ist es damit leicht, zu sagen: Diese Menschen wollen wir nicht versichern, oder die müssen einen Extrabonus zahlen. Diese Ein- und Ausgrenzung suggeriert, dass sich Menschen selbst entscheiden könnten, ob sie sich gesund oder falsch ernähren.
Sind die Konsumenten nicht für ihre Kaufentscheidung selbst verantwortlich?
Nicht unter den gegenwärtigen Arbeits- und Lebensbedingungen. Protest dagegen ist nicht neu: Um die Jahrhundertwende kritisierte die Lebensreformbewegung Industrialisierung und Urbanisierung. Später wollten Alternativbewegungen die Abhängigkeit von Arbeitszeiten überwinden.
Gibt es eine Antwort auf die Frage nach eine richtiger Ernährung?
Es ist eben nicht klar, was richtige Ernährung ist. Experten unterstellen, was richtig ist. Stattdessen braucht es Diskussionen über Lebens- und Arbeitsformen. Prekäre Fälle, Arbeitslose, jene, die kein Geld haben, konsumieren billiges Zucker- und Fettzeug. Hier geht es in den Bereich Selbstwert: Wenn der Mensch nicht geschätzt wird, schätzt er sich auch selbst nicht. Hier erreicht man Menschen nicht mit Kampagnen.
INTERVIEW: CHRISTINE ZEINER
Martina Kaller-Dietrich (44) Philosophin und Historikerin, lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien.
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