Hilfe vom Internationalen Währungsfonds: IWF-Vorzeigemodell Türkei stürzt ab
Weil im Land keine Bank bankrottging, sah die türkische Regierung keine Krise. Doch die Zahl der Arbeitslosen steigt, Investoren ziehen ihr Kapital ab.
ISTANBUL taz Es ist eine bizarre Szene. Mitten auf dem Marktplatz von Zonguldak, dem Zentrum des türkischen Kohlebergbaus an der Schwarzmeerküste, starren Hunderte von Leuten darauf, wie ein Mann versucht, einen schweren Baum zu schultern, um dann möglichst schnell einen großen Schutthaufen wegzuschaufeln. Was wie eine türkische Ausgabe von "Wetten, dass …?" anmutet, ist in Wirklichkeit ein Bewerbungsschaulaufen für einen der raren Arbeitsplätze in einer staatlichen Kohlemine. Für insgesamt 3.000 Arbeitsplätze, die mit monatlich 1.175 Lira - rund 550 Euro- bezahlt werden, hatten sich mehr als 35.000 Männer beworben. Das Kohleinstitut entschied sich für die Tests mit den Baumstämmen und den Schaufeln, die immerhin noch gut 20.000 Mann bestanden. Unter diesen wurden dann die Jobs ausgelost. Der riesige Andrang auf die harten, schlecht bezahlten und gefährlichen Untertagejobs ist kein Zufall. Die Zahl der Arbeitslosen in der Türkei ist so hoch wie seit Jahren nicht mehr.
Schien es zunächst so, als hätte die globale Finanzkrise die Türkei nur gestreift, weil keine der großen Banken im Subprime-Geschäft involviert war, hat die Weltwirtschaftskrise mit einer kleinen Verzögerung inzwischen voll zugeschlagen. Täglich kommen neue Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt. Erst 1.000 Entlassungen bei der größten Bank, dann 3.000 gefeuerte Arbeiter in der Werftindustrie, zuletzt 10.000 bei den Autobauern und der Zuliefererindustrie. Vor allem die Autoindustrie, die sich in den letzten sechs Boomjahren zum Paradebeispiel des türkischen Aufschwungs entwickelt hatte, ist nun besonders betroffen. Die Werke von Toyota, Renault, Mercedes und anderen, die von der Türkei aus für den europäischen und nahöstlichen Markt produzieren, sind massiv davon betroffen, dass kaum noch Autos verkauft werden - in der Türkei nicht mehr, aber auch auf den Exportmärkten nicht. Offiziell wird die Arbeitslosigkeit nun mit 9,8 Prozent angegeben, doch wenn ehrlich gerechnet würde, sagen die meisten Experten, sind es tatsächlich mindestens 20 Prozent.
Dabei hat die regierende AKP von Ministerpräsident Tayyip Erdogan, seit sie infolge einer schlimmen Bankenkrise 2002 an die Macht kam, nach dem Attest des Internationalen Währungsfonds IWF und anderer Wirtschaftsweisen alles richtig gemacht: verstärkte Annäherung an die EU, strenge Finanzdisziplin auf Kosten der Arbeitnehmer und der bis dahin subventionierten Landwirtschaft, groß angelegte Privatisierung staatlicher Firmen und ein freundliches Umfeld für ausländische Investoren führten dazu, dass die FID (Foreign Direct Investment) von davor kaum 1 Milliarde Dollar in fünf Jahren auf zuletzt mehr als 20 Milliarden Dollar in einem Jahr gestiegen war und Wachstumsraten zwischen 7 Prozent und 9 Prozent jährlich ermöglichten.
Doch genau dieser von außen befeuerte Aufschwung ist nun einer der Gründe für den Absturz. Auswärtiges Kapital wurde in den letzten Wochen in großem Umfang abgezogen. Die Folgen sind dramatisch: Die Börse stürzte um 50 Prozent ab, und die Lira verlor fast in gleichem Umfang gegenüber dem Dollar an Wert. Da die Regierung ihre hohen Schulden vor allem durch ausländisches Kapital refinanziert hat, drohen nun große Zahlungsschwierigkeiten. Prompt stuften die großen Ratingagenturen das Land auf "BB" zurück. Das wird neue Kreditaufnahmen deutlich verteuern. Lediglich der gefallene Ölpreis sorgt für etwas Luft.
Die Regierung steht der gesamten Entwicklung völlig hilflos gegenüber. Nachdem sie sich wochenlang auf den Standpunkt gestellt hatte, es gebe gar keine Krise, weil ja keine türkische Bank pleitegegangen sei, will sie jetzt wenigstens kleinere Firmen mit billigen Krediten unterstützen. Doch dafür braucht sie erst einmal frisches Geld, und das kann in der derzeitigen Situation nur vom IWF kommen. Eigentlich waren alle Verträge mit dem IWF im Mai ausgelaufen, und die Regierung hatte bereits verkündet, die Wirtschaft sei nun robust genug, um ohne Finanzhilfen und Aufsicht aus Washington auszukommen. Jetzt musste Erdogan doch wieder beim IWF anklopfen und um frisches Geld betteln. Im Schnelldurchgang wird nun ein neues Paket zusammengestellt, das in den nächsten Tagen präsentiert werden soll.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften