Hermann G. Abmayr : Streit um Massaker geht weiter
Die Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart hat die Einstellung des Verfahrens wegen des SS-Massakers im italienischen Sant'Anna di Stazzema bestätigt. Der Überlebende Enrico Pieri (78), der eine Wiederaufnahme beantragt hatte, sei erschüttert, berichtet seine Anwältin Gabriele Heinecke. Sie kündigte ein Klageerzwingungsverfahren vor dem Landgericht Karlsruhe an.
Nach Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft kann gegen keinen der noch lebenden fünf Beschuldigten ein individueller Tatnachweis geführt werden. Trotz eines anders lautenden Gutachtens des Kölner Historikers Carlo Gentile könne „nicht mit strafrechtlich relevanter Sicherheit“ nachgewiesen werden, dass das Massaker an mehreren hundert Frauen, Kindern und Alten eine von vornherein geplante Vernichtungsaktion war. Damit bestätigt Oberstaatsanwalt Peter Rörig die Einstellungsverfügung des Stuttgarter Oberstaatsanwalts Bernhard Häußler vom Herbst 2012.
In Italien verurteilt
Dagegen verurteilten die italienischen Richter 2005 zehn Männer des SS-Bataillons wegen Mordes in Sant'Anna in Abwesenheit zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe. Seit 2008 ist das Urteil rechtskräftig. Ausgeliefert hat die Bundesregierung die Männer, gegen die ein europäischer Haftbefehl vorliegt, aber nicht. Bisher haben sich die zuständigen Behörden auch geweigert, die Strafe, wie von Italien beantragt, in Deutschland zu vollziehen. Die entsprechenden Verfahren laufen noch. Mittlerweile leben jedoch nur noch vier der Verurteilten.
Während Häußler gegen die SS-Schergen, die für das Massaker in Sant'Anna verantwortlich gemacht werden, zehn Jahre lang ermittelt hat, hat die gleiche Abteilung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft im Fall des ehemaligen Auschwitz-Wachmanns Hans Lipschis aus dem württembergischen Aalen nicht lange gefackelt und den 93-jährigen verhaften lassen, obwohl es keine konkreten Tatvorwürfe gibt.
Demjanjuk-Urteil greift nicht
Kurt Schrimm, der Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, begründet die Ermittlungen gegen Lipschis mit einer Änderung der herrschenden Rechtsmeinung seit dem Demjanjuk-Urteil von 2011. Damals hatte das Landgericht München II den ehemaligen KZ-Wachmann John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Juden im Vernichtungslager Sobibor zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl konkrete Taten nicht belegt werden konnten. Doch diese Rechtskonstruktion, so die Stuttgarter Generalstaatsanwaltschaft, greife im Falle des Sant'Anna-Massakers nicht.
Wie viele NS-Verbrechen die deutsche Justiz noch zu bewältigen hat, weiß derzeit niemand. So gibt es in Italien außer dem Sant'Anna-Urteil weitere Urteile gegen Deutsche, die sich an Massakern gegen die Zivilbevölkerung beteiligt hatten, aber nie ausgeliefert wurden. Nach Informationen von Kontext hat die deutsche Justiz diese Urteile mittlerweile angefordert. Angeblich soll geprüft werden, wer von den Verurteilten noch lebt und ob gegebenenfalls ein Verfahren eingeleitet werden muss.