Hermann G. Abmayr und Sandro Mattioli : Beschämter Gauck
Was Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) nicht wollten, macht jetzt Joachim Gauck. Der Bundespräsident wird mit Enrico Pieri sprechen, einem der Überlebenden eines SS-Massakers von 1944 in der Toskana. Dazu reist Gauck am Sonntag nach Sant'Anna di Stazzema. Als Pieri Ende Januar in Stuttgart weilte, standen Kretschmann und Stickelberger nicht zur Verfügung.
Der Januar 2013 wird Enrico Pieri, dem Vorsitzenden des Opferverbandes von Sant’Anna, in Erinnerung bleiben. Nachdem ihn der italienische Staatspräsident Georgio Napolitano empfangen hatte, wollte er der Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart die Beschwerde gegen die Einstellung des Sant’Anna-Verfahrens in Deutschland überreichen. Doch daraus wurde nichts. Der 78-Jährige musste draußen warten, seine Anwältin Gabriele Heinecke alleine ins Gerichtsgebäude. Kurz zuvor hatte noch Stuttgarts grüner Oberbürgermeister Fritz Kuhn Verwaltungs- und Krankenhausbürgermeister Werner Wölfle damit beauftragt, Pieri zu empfangen. Und zuletzt meldeten sich noch Uli Sckerl und Jürgen Filius. Die beiden grünen Abgeordneten luden den Italiener zu einem Gespräch in den Landtag.
Zurück in Italien, schrieb Pieri seinem Präsidenten in Rom und bat ihn, dem deutschen Staatsoberhaupt einen Brief zu übergeben. Napolitano nutzte dazu den Staatsbesuch in Berlin Ende Februar, und Gauck erzählte die Geschichte noch am selben Tag in seiner Rede zu Ehren des Gastes aus Rom. „Sie haben mir heute Morgen den berührenden Brief eines Überlebenden dieses Massakers überreicht. Wenn wir – hoffentlich gemeinsam – Sant’Anna besuchen könnten, würde mich das sehr bewegen.“ Pieri hatte Gauck zum 70. Jahrestag des Massakers am 12. August 2014 nach Sant’Anna eingeladen.
Gauck wollte aber nicht so lange warten: Schon an diesem Sonntag werden die beiden Staatsoberhäupter Enrico Pieri und andere Überlebende in Sant'Anna di Stazzema erwarten, das Museum und das Ossarium besuchen, in dem die Überreste mehrerer hundert Menschen, liegen, die von SS-Schergen umgebracht wurden, darunter über hundert Kinder. Gaucks Haltung ist klar: Für die „schmerzhafte Aufarbeitung“ der Verbrechen in Italien dürfe es keinen Schlussstrich geben. „Die allzu oft verleugneten oder verdrängten Verbrechen“ unter der deutschen Besatzung beschämten ihn bis heute.
Die Italiener wollen Gauck auch auf die unterschiedliche Aufarbeitung des Massakers durch die Justiz der beiden Länder ansprechen. Auch der zuständige Militärstaatsanwalt Marco De Paolis wird nach Sant’Anna reisen. De Paolis, der heute in Rom arbeitet, hatte in La Spezia die Ermittlungen geleitet. Während dort 2005 zehn SS-Männer in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren, benötigte der Stuttgarter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler Zeit bis zum Herbst 2012, um das Verfahren dann einzustellen. Er begründete dies damit, den acht noch lebenden Beschuldigten – anfangs waren es 17 – könne keine strafbare Beteiligung an dem Massaker nachgewiesen werden, die noch nicht verjährt wäre. Der Bürgermeister von Sant’Anna di Stazzema, Michele Silicani, nannte die Einstellung damals einen Skandal. Staatspräsident Napolitano kritisierte besonders „die erschütternden Gründe“, mit denen das Verfahren in Deutschland zu den Akten gelegt worden sei. Und Politiker der Demokratischen Partei forderten, die italienische Regierung müsse Druck ausüben, „damit Deutschland die von der italienischen Justiz gefällten Urteile respektiert“.
Dies ist bis heute nicht geschehen. Da Deutschland eine Auslieferung der seit 2008 rechtskräftig verurteilten SS-Männer abgelehnt hatte, beantragten die Italiener, das Urteil in der Bundesrepublik zu vollstrecken. Das Bundesjustizministerium hält dies für möglich, es müsse jedoch sorgfältig geprüft werden. Die Stellungnahme des Stuttgarter Staatsanwalts Häußler fiel negativ aus. Er hatte die Vollstreckung der italienischen Urteile schon 2008 abgelehnt, da die Tötung der Menschen in Sant'Anna nicht grausam im Sinne des Strafgesetzbuches sei und damit kein Mordmerkmal erfülle.
Zuständig sind die Bundesländer, in denen die Männer leben. Dies, so eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums, seien unter anderem Bayern, Bremen, Baden-Württemberg, Hessen und NRW. Den dortigen Justizbehörden genügten die italienischen Urteile und ihre Begründung jedoch nicht. So müsse sichergestellt sein, dass die Männer ordnungsgemäß geladen wurden oder dass es sich bei dem italienischen Militärgericht nicht um ein Sondergericht gehandelt habe. Auf diese Dokumente würden die deutschen Stellen bis heute warten, heißt es in den Behörden von Rainer Stickelberger (Baden-Württemberg) und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Bund).
Dem widerspricht der italienische Militärstaatsanwalt. Man befinde sich noch immer in einer „Phase der Korrespondenz“, sagte De Paolis mit diplomatischer Zurückhaltung. Er habe zum Teil sehr detaillierte Nachfragen aus Deutschland bekommen. Manche könne er nicht nachvollziehen. Das Wort Verzögerungstaktik kommt ihm nicht über die Lippen.
Mittlerweile leben nach Angaben von De Paolis nur noch vier der zehn Verurteilten. Darunter Gerhard Sommer aus Hamburg, Karl Gropler aus Sachsen-Anhalt und Werner Bruss aus Sachsen. Die meisten der vom Bundesjustizministerium genannten Bundesländer dürften den Fall damit zu den Akten gelegt haben. Auch Baden-Württemberg, wo nur noch ein ehemaliger SS-Mann lebt, der zu der Einheit gehörte, die für das Massaker verantwortlich gemacht wird. Doch er war in Italien nicht angeklagt.
Der letzte in Italien verurteilte Baden-Württemberger war Ludwig Göring. Er war einer der wenigen, die ihre Tat gestanden hatten. Göring hatte Frauen, die vor einer Hütte saßen, innerhalb von zwei Minuten mit einem Maschinengewehr „umgemäht“. Der ehemalige SS-Mann starb am 22. Januar 2011 im Alter von 87 Jahren. Das für die Vollstreckung zuständige Landgericht Karlsruhe konnte die Akte damit ins Archiv geben.