Helmut Höge Wirtschaftsweisen: Lockere Naturgesetze
Neulich wurde mir in einem Kneipengespräch gesagt, die Naturgesetze seien unumstößlich. „Gravitation und Lichtgeschwindigkeit sind sogenannte Fundamentalkonstanten.“ Nur in Berlin? Oder zum Beispiel auch in London? Fragte ich. Blöde Frage, bekam ich zur Antwort. Aber das war sie nicht. Im Londoner Patentamt fand der Botaniker Rupert Sheldrake heraus, dass die Lichtgeschwindigkeit zwischen 1928 und 1945 um etwa 20 Kilometer pro Sekunde sank – überall auf der Welt. Aber ab 1948 stieg sie wieder. Er fragte daraufhin den Leiter der Metrologie am National Physical Laboratory: „Was sagen Sie zu diesem Rückgang der Lichtgeschwindigkeit zwischen 1928 und 1945?“
„Oje“, sagte er, „Sie haben da die peinlichste Episode in der Geschichte unserer Wissenschaft aufgedeckt.“
„Kann es sein, dass die Lichtgeschwindigkeit tatsächlich gesunken ist? Wenn ja, hätte das doch erstaunliche Auswirkungen.“ „Nein, natürlich kann sie nicht wirklich gesunken sein. Sie ist eine Konstante!“ „Wie erklären Sie dann die Tatsache, dass sie in dieser Zeit viel langsamer geworden ist? Wurden die Ergebnisse gefälscht?“ „Wir benutzen das Wort fälschen nicht gerne. Wir nennen es lieber ‚intellektuelles Phase-Locking‘.“ „Wenn das damals so war, wie können Sie dann sicher sein, dass die heutigen Werte nicht durch intellektuelles Phase-Locking erzeugt werden?“ „Wir wissen, dass das nicht der Fall ist.“ „Wie können Sie das wissen?“ „Wir haben das Problem gelöst.“ „Und wie?“ „Wir haben 1972 die Lichtgeschwindigkeit per Definition festgelegt.“
„Aber sie könnte sich immer noch ändern.“ „Das würden wir aber nie erfahren, weil wir das Messgerät in Bezug auf die Lichtgeschwindigkeit definiert haben, also würden sich die Einheiten mit ihr ändern!“ Er sah sehr erfreut darüber aus, dass sie dieses Problem gelöst hatten. Sheldrake bohrte weiter: „Und was ist dann mit dem ‚großen G‘, Newtons universelle Gravitationskonstante? Sie hat sich in den letzten Jahren um mehr als 1,3 Prozent verändert und scheint von Ort zu Ort und Zeit zu Zeit zu variieren.“ „Das sind eben Fehler. Leider gibt es ziemlich gravierende Fehler beim großen G.“
„Und wenn es sich wirklich ändert? Ich meine, vielleicht verändert es sich wirklich.“
Sheldrake hat sich daraufhin angesehen, wie sie es machen: Sie messen es in verschiedenen Laboren, erhalten an verschiedenen Tagen unterschiedliche Werte und bilden deren Durchschnitt. Andere Labore machen das Gleiche und kommen in der Regel zu einem etwas anderen Durchschnittswert. Und dann trifft sich das internationale Komitee für Metrologie alle zehn Jahre oder so und bildet den Durchschnitt aus den Werten der Labore in der ganzen Welt, um den Wert vom großen G zu ermitteln.
Aber was wäre, wenn sich G tatsächlich ständig ändern würde? Es gibt Beweise dafür, dass es sich im Laufe des Tages und des Jahres ändert. Was wäre, wenn die Erde auf ihrem Weg durch den galaktischen Raum dunkler Materie oder anderen Faktoren ausgesetzt wäre, die den Wert verändern könnten? Vielleicht verändern sie sich alle zusammen. Was wäre, wenn diese Fehler gemeinsam ansteigen und abnehmen?
Seit mehr als zehn Jahren versucht Sheldrake, Messtechniker davon zu überzeugen, sich die Rohdaten anzusehen und die tatsächlichen Messungen ins Internet zu stellen, um zu sehen, ob sie zu einem bestimmten Zeitpunkt steigen und zu einem anderen sinken. Wenn ja, könnten sie gemeinsam eine Schwankung aufweisen. „Das würde uns etwas sehr Interessantes sagen. Aber niemand hat das getan, weil G eben eine Konstante ist. So hat es keinen Sinn, nach Veränderungen zu suchen – ein Beispiel dafür, dass eine dogmatische Annahme die Forschung behindert.“
In London wie in Berlin besteht man also auf festen, ewig gültigen Naturgesetzen, aber: Nichts ist konstant. Das dient nur zur Beruhigung unserer kurzen Lebenszeit. Die beträgt in London im Durchschnitt 82 Jahre, in Berlin 80,5 – Tendenz steigend.
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