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Aus taz FUTURZWEI

Heinz Bude über die Bundestagswahl Niemand kann sich allein retten

Wie können wir die Freiheit des Einzelnen schützen und gleichzeitig die ökologischen Probleme bearbeiten, um die Freiheit aller zu bewahren, Heinz Bude?

»Ein Staat, der Zukunft eröffnet«: Heinz Bude in Berlin Foto: Katrin Streicher

taz FUTURZWEI: Lieber Heinz Bude, wie können wir die Freiheit des Einzelnen schützen und gleichzeitig mit ökologischen und anderen Problemen klarkommen, die der Einzelne nicht lösen kann?

Heinz Bude

Der Mann:

Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel und seit 2020 zudem Gründungsdirektor des dortigen documenta-instituts.

Jahrgang 1954, Arbeiterkind, geboren in Wuppertal, lebt in Berlin.

Das Werk (u. a.):

Aufprall (2020): mit Bettina Munk und Karin Wieland. Roman über die Hausbesetzer der 80er in Berlin und ihren Bruch mit den 68ern

Solidarität (2019): Versuch, einen leer und verkitscht gewordenen Begriff als soziale Ressource neu zu denken und damit wiederzubeleben

Generation Berlin (2001): Arbeitsauftrag an die damalige rot-grüne Regierung und ihr Denkmilieu, die Bundesrepublik geistig und politisch zu modernisieren. Bis heute tragisch unerfüllt.

Heinz Bude: Es sind doch zwei Dinge durch die Pandemie klar geworden. Erstens: Dass niemand sich allein retten kann. Zweitens: Dass die Gefährdungen, die in der Risikogesellschaft von heute jede einzelne Person in ihrem eigenen Leben betreffen, mit den üblichen Mitteln der zivilgesellschaftlichen Mobilisierung nicht zu bewältigen sind. Gerade im Blick auf große gesellschaftliche Transformation ist der Staat als eigenständiger Akteur zwischen Markt und Gesellschaft wieder hervorgetreten.

Oje, da stöhnen die Liberalen auf und die Wokies auch.

Die Einsicht in der Staatsbedürftigkeit unseres gemeinsamen Lebens ist in der Tat nicht angenehm. Ich denke dabei an die Politik des Kredits, die die US-amerikanische Regierung unter Joe Biden auf den Weg gebracht hat. Ich finde gerade mit Blick auf den Klimawandel diese Kreditierung von Zukunft vollkommen richtig. Der Staat erlaubt eine Großzügigkeit im Vorangehen, zu der wir als Einzelne gar nicht imstande wären.

Aber muss man sich nicht gerade deshalb vor dem Staat in Acht nehmen?

Auf der rechten wie auf der linken Seite gibt es die Furcht vor dem tiefen Staat, der in die Poren der kleinen Lebenswelten dringt. Andererseits ist es wie im richtigen Leben: Wenn man nicht mehr weiterweiß, weil man Schmerzen hat oder kein Recht bekommt, wendet man sich an Profis, die sich auskennen. In Zeiten von Extremwetterlagen und einer nicht enden wollenden Pandemie, sucht man nach Leuten, die in der Lage sind, über die Dinge vorurteilslos nachzudenken und bei den notwendigen Maßnahmen den Unterschied von Output und Outcome kennen. Die gibt es in der Wissenschaft, in der Politik und in der Wirtschaft. Die zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit den Anmaßungen ihres jeweiligen Wissens nicht zufriedengeben. Man muss sie nur finden und zusammenbringen. Es ist meiner Ansicht nach heute die Aufgabe des Staates, sich auf diese Weise der Intelligenz der Gesellschaft zu versichern. Der Staat, den ich vor Augen habe, ist kein Staat, der nur für Folgeprobleme aufkommt, sondern ein Staat, der Zukunft eröffnet.

Klingt gut.

Die Fragen des Verhältnisses von Freiheit und Schutz und von Beharrung und Veränderung überlappen sich. Freiheitspathos ohne Veränderungswille ist genauso schlecht wie Schutzverlangen im Beharrungsmodus. Dazu kommt das Problem der Begrenztheit des eigenen Horizonts. Was hat Europa, das auf mittlere Sicht vielleicht noch acht Prozent der Weltbevölkerung stellen wird, auf dieser Frage für eine Antwort?

Sie werden es uns sagen.

Die Antwort darauf ist: Das Rätsel des Individuums. Wir haben im Gefolge von eminenten Denkerinnen wie Levi-Strauss, Althusser, Foucault oder Hélène Cixous die zentrale Rolle des Ichs infrage gestellt. Das ist notwendig und richtig. Das Ich ist nicht das Zentrum der Welt. Das Subjekt ist ein Resultat von Zurichtungen, und der Mensch ist eine Konstruktion der Humanwissenschaften. Trotzdem fragt sich, wie Veränderungen passieren und woher das Neue kommt. Hier kommt man um das Individuum nicht herum, das nicht bloß eine Ableitung von anonymen Strukturen ist. Europa schätzt das renitente, dissidente und irre Ich, weil es sich die Freiheit des Selbstseins gibt. Gesellschaftliche Veränderungen, wissenschaftlicher Fortschritt und politische Innovation sind ohne dieses rätselhafte Ich, das sich gegen Trends stellt, an die Wahrheit einer Entdeckung glaubt und wie aus dem Nichts vorangeht, nicht zu denken. Die Freiheit dieses Ichs ist keine notwendige Annahme, sondern eine erstaunliche Wirklichkeit.

Das ist 20. Jahrhundert.

Nein. Diese Freiheitsfrage lässt sich nicht auf die neoliberale Angst vor der Abhängigkeit von anderen reduzieren. Das Ich ist immer auf andere bezogen, aber es ist deren Wünschen und Zumutungen nicht restlos ausgeliefert. Vielleicht ist das Ich nur ein Rest des Andersseins. Aber auf diesen Rest kommt es für uns alle an.

Sie verwirren uns. Erst beschwören Sie den neuen Staat, nun wieder das Individuum.

Der Zwischenbegriff für mich ist der Begriff der Solidarität. Solidarität kann sich nicht in Berufung auf ein vorgegebenes Wir begründen. Die Solidarität, der ich mich verpflichte, muss durch das Nadelöhr des Ichs gehen. Nur im Geiste einer Solidarität aus dem Ich kann man auf einen Staat hoffen, vor dem man sich nicht fürchten muss.

Also FDP-Denken, persönliche Freiheit von äußeren und auch staatlichen Zwängen?

»Das wirkliche Problem von Annalena Baerbock ist ein konzeptionelles Problem des Wahlkampfes der Grünen. Man kann aus der allgegenwärtigen Erfahrung der Pandemie keinen Aufbruchwahlkampf machen.« Heinz Bude

Ja, der negative Freiheitsbegriff sagt: Freiheit ist die Chance, Zumutungen zurückweisen zu können. Darüber will ich mich auch gar nicht darüber lustig machen. Das ist schon alles ganz wichtig. Aber das Weiterführende ist der positive Freiheitsbegriff, der die Frage stellt, wie wir leben wollen.

Konkret?

Die große Transformation, die überall auf der Welt vor sich geht, wirft die Frage nach den Wünschen der Leute und den Quellen des gemeinsamen Reichtums auf. Inwieweit bin ich, ohne dass ich’s vielleicht will, eine Trittbrettfahrerin der Leistung anderer und wie viel Recht haben die anderen auf meinen Beitrag zum Ganzen? Das interessiert die Leute enorm, das spüre ich überall, und deshalb sind sie auch unzufrieden mit der Laschheit dieses Wahlkampfes. Wir kommen in Deutschland aus zehn Jahren, die für viele wie das Paradies waren, und die allermeisten spüren, dass das so ohne Weiteres nicht mehr weitergeht.

Paradies?

Ja, eine satte Mehrheit in der deutschen Gesellschaft hat in den letzten zehn Jahren einen beträchtlichen Gewinn von Lebenschancen gesehen. Insbesondere die Generation der Mittzwanziger, für die Angela Merkel die Allegorie der Ewigkeit war.

I n Sachsen-Anhalt, das wurde in der medialen Wahlhysterie vernachlässigt, liegt die Lebenszufriedenheit bei nahezu 80 Prozent. Das war die Basis dafür, Haseloff wiederzuwählen. Der Gedanke war: Uns geht es doch gut, und der tut uns nix. Aber wenn die Leute wirklich auch wissen wollen, was man jetzt tun muss, warum haben speziell die Grünen solche Probleme?

Das wirkliche Problem von Annalena Baerbock ist ein konzeptionelles Problem des Wahlkampfes der Grünen. Man kann aus der allgegenwärtigen Erfahrung der Pandemie keinen Wahlkampf des optimistischen Aufbruchs machen. Das war falsch. Die Leute sind erschöpft, die Grünen übrigens auch. Armin Laschet dagegen hat auf die Erschöpfung gesetzt und einfach nichts gesagt. Das war noch falscher. Der Laschetismus der Rückkehr und der Baerbockismus des Aufbruchs haben sich wechselseitig stabilisiert mit dem Effekt, dass das Publikum immer gereizter wurde. Das ist die Falle, und aus der müssen wir raus.

Wie?

Die Formel lautet: Wir müssen zurückkehren an einen Ort, an dem wir noch nie waren. Das ist eine wirkliche Herausforderung für das Land. Denn dazu muss man den toten Punkt zur Kenntnis nehmen, an dem wir uns befinden.

Was heißt das für den Wahlkampf?

Die Grünen müssten sich zu ihrer Erschöpfung bekennen. Das wäre ein Beginn, weil erst dadurch eine Kraft entstehen kann. Und die Union müsste sich ihren Nullpunkt nach dem Ende der Ära Merkel eingestehen, weil sie dann ihre Unfähigkeit zum Untergang mobilisieren könnte. Wenn diese beiden Parteien das nicht hinkriegen, die Grünen und die CDU, dann kriegen wir eine Koalition, in der die Grünen oder die CDU nicht mehr drin sind.

Die Grünen tun sich ja traditionell schwer mit Freiheit. Aber der Bundesvorsitzende Habeck hat beim letzten Parteitag eine relativ große Rede gehalten, wo er versucht hat, Klimapolitik als Freiheitspolitik zu verkaufen. Kann man damit Mehrheiten gewinnen?

Ich glaube schon, man kann Klimapolitik als Freiheitspolitik verkaufen. Aber das beruhigt niemanden. Robert Habeck betont vor allem, dass dadurch alle etwas hinzubekommen. Aber ist das glaubhaft? Die Rechnung lautet doch anders: Individueller Wohlstandverlust kann kollektiven Wohlfahrtsgewinn mit sich bringen. Klima für alle! Das leuchtet aber nur dann ein, wenn man einen Begriff gesellschaftlichen Reichtums hat, der über rein ökonomischen Reichtum hinausgeht. Aber was ist gesellschaftlicher Reichtum? Gehört die soziale Marktwirtschaft zu unserem gesellschaftlichen Reichtum? Gehören die Genossenschaften dazu? Das Leben auf dem Lande? Die Innenstädte? Solche Fragen erübrigen sich nicht mit dem Plädoyer fürs bedingungslose Grundeinkommen.

Freiheitspolitik im 21. Jahrhundert als Klima- und Regulierungspolitik, das ist etwas, womit die FDP bisher gar nicht zurechtkommt.

Das ist eine Herausforderung für die FDP. Der Sozialliberalismus war schließlich mal ein Weg für die FDP in die Regierung. Allerdings, so hat Ralf Dahrendorf sinngemäß gesagt, ist trotz der Unterschiede zwischen dem lässigen Freiheitsverständnis in der Klub-Demokratie und dem missionarischen in der Massendemokratie, zwischen den stolzen Freiheitsverständnis im Widerstand und dem cleveren in der Anpassung, zwischen dem naiven im Carbon-Zeitalter und dem sentimentalen im Post-Carbon-Zeitalter oder dem gelben der alten und dem grünen der neuen Bundesrepublik – trotz all dieser Unterschiede im Idiom der Freiheit ist für die liberale Freiheit immer Freiheit.

»Der Laschetismus der Rückkehr und der Baerbockismus des Aufbruchs haben sich wechselseitig stabilisiert mit dem Effekt, dass das Publikum immer gereizter wurde.« Heinz Bude

Lassen Sie uns über die neue europäische Idee des freien Individuums sprechen. Wenn es sie gäbe, was hätte sie überhaupt für eine geopolitische Kraft gegen die mächtiger werdenden alternativen Modelle?

Nehmen wir Südkorea als Beispiel einer nach dem Zweiten Weltkrieg ungeheuer erfolgreichen Entwicklungsdiktatur. Die kann heute die Massenloyalität nicht mehr durch Wirtschaftswachstum plus Kollektivkultur gewährleisten. Der Pop aus der Samsung Galaxy ist alles andere als unbeschwert. Man könnte geradezu von einer Ironie des Desasters sprechen, die merkwürdigerweise weltweit auf Resonanz stößt. Womöglich ist viel mehr Südkorea in Deutschland, als wir glauben.

Mir ist eine freie Gesellschaft mit Klimawandel lieber als eine unfreie ohne Klimawandel. Also nochmal die Frage: Wie kommt man mit unseren zivilisatorischen Ansprüchen mit diesen ökologischen Krisen klar?

Wir denken im Augenblick das Individuum, auch hier bei uns, immer noch viel zu sehr von der Idee der Selbstverwirklichung her. Die Forschungen über den Wertewandel haben im Sinne einer Bilanz der Nachkriegszeit seinerzeit den Wechsel von den Akzeptanz- zu den Resonanzwerten konstatiert. Diese Diskussion ist Geschichte. Wir erleben doch gerade den zugebenermaßen schwierigen Wechsel von der Singularität zur Solidarität. Man will jedoch das Gehäuse des Ichs nicht gegen ein Gehäuse des Wirs eintauschen.

Was lautet also die Aufgabenstellung?

Was ist das für eine Gesellschaft, die ein Wir experimentiert, das nicht das Opfer des Ichs kostet? Oder: Was sind das für Praktiken der Begegnung, wo nicht Ich auf Ich prallt, sondern wo wir miteinander etwas ausmachen wollen?

Was halten Sie von einer öko-grünen Rhetorik der Dringlichkeit, wir haben nur noch 10, 9, 8, 7, 6, 5 Jahre Zeit?

Ich komme aus der Westberliner Denk- und Erfahrungswelt der 1980er-Jahre. Die stand unter der Parole »No Future!«. Das hieß: Wir lassen uns weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft terrorisieren. Das, fürchte ich, ist eine Haltung, was wir jetzt wieder gebrauchen können.

Gleichzeitig haben wir einen Wahlkampf, in dem die großen Zukunftsfragen erst gar nicht adressiert werden.

Ja, der Wahlkampf tut so, als ob die Zukunft nichts anderes wäre als eine renovierte Vergangenheit. Und einige verzweifeln an dieser Idee, weil sie weder einer idyllisierten Vergangenheit noch einer drohenden Zukunft zu glauben vermögen.

Und Sie?

Zukunft wird nicht einfach ein »noch weiter so« sein. Ich will aber die Panik aus der Sache rauskriegen. Zukunft ist der Horizont, in den wir bereit sind zu gehen und nicht etwas, was uns zwingt, in eine bestimmte Richtung gehen zu müssen. Wir kommen nur als freie Geister zusammen.

Wir können es tun, wir können es lassen?

Wenn man getrieben ist, kommt man zu keinen guten Lösungen, wobei Lösung auch schon wieder der falsche Begriff ist. Ideen finde ich den besseren Begriff. Zur Wahl stehen die Ideen, die Lösungsvorschläge beinhalten. Es geht heute um den Einspruch einer sich versammelnden Intelligenz. Die muss sagen: Wartet mal! Wir müssen jetzt richtig überlegen! Und dann muss man sich vor die Leute hinstellen und sagen: Wir haben über diese Dinge nachgedacht. Und wir sind zu folgendem Ergebnis gekommen, wie wir Schutz und Freiheit verknüpfen, damit das Leben nach hinter verstanden und nach vorn gelebt wird. Und nun wählt uns dafür. Aber ich will nicht dieses Churchill-mäßige.

Blut, Schweiß, Tränen, und am Ende werden wir siegen.

Ich mag den Mut Churchills sehr, aber ich will es einfach freundlicher haben. Das Wesen von Politik ist stellvertretende Deutung der Lage, die die Leute so adressiert, dass sie das nicht als Abkanzelung von oben, aber auch nicht als reine Beschwichtigung der Lage ansehen. Sondern als Bewährung. So blöd sind die Leute nicht.

Es gibt durch die Pandemie wohl eher die Sehnsucht nach einem Superstaat, der uns gegen alles absichert – gleichzeitig aber schön in Ruhe lässt.

Eins ist doch klar, das führt uns die Rechte auf der ganzen Welt vor: Man muss die Leute in ihrem Schutzbedürfnis ernst nehmen. Es scheint Mehrheiten in fast allen westlichen Gesellschaften zu geben, die auf die letzten 40 bis 50 Jahre schauen und sagen: Wir sind der Schutzlosigkeit preisgegeben und wir sind betrogen worden. Es haben zwar viele gewonnen, und es haben auch mehr gewonnen als man denkt, aber gleichzeitig war der Preis für noch mehr andere ziemlich hoch. Und die gewonnen haben, denken: Das soll uns nicht zerrinnen. Und die verloren haben, wollen nicht als Problembevölkerung behandelt werden.

Was nehmen wir denn nun mit?

Ich will auf den simplen Gedanken raus, dass wir uns Schutz nur gemeinsam geben können. Damit bin ich wieder bei der Idee des vorangehenden Staates. Wir sollten in Ruhe nachdenken und dann die Türen öffnen und ins Freie gehen.

Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°18 erschienen.