Haus der Kleinen Forscher: 10.000 kleine Revolutionen von unten
Morgen wird die 10.000ste Kita zum "Haus der Kleinen Forscher" ernannt. Der Schnellkurs in Neugier bringt einen völlig neuen Lernbegriff in die Kitas.
![](https://taz.de/picture/328451/14/kids_05.jpg)
Überall lagen Plastikpipetten herum. Weiß geschürzte Vierjährige sogen Wasser auf. Anschließend pipettierten sie es auf einen schwarzen Filzerfleck, der auf einem Kaffeefilter gemalt worden war. Und dann begann das große Staunen, wie viele Farben ein ein schwarzer Filzstift freigibt - wenn, ja wenn man ein Experiment mit ihm macht.
Am Freitag wird Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich diesen Versuch in der Kita "Gänseblümchen" machen. Vielleicht auch die Teebeutel-Rakete oder den Flaschentornado. Die Dresdner Kita ist die 10.000 Einrichtung in Deutschland, die zum "Haus der Kleinen Forscher" ernannt wird.
In solchen Kreativhäusern werden einfache wissenschaftliche Versuche gemacht, die Erzieherinnen in einer Fortbildung gelernt haben. Es ist weniger naturwissenschaftliches Wissen, das dabei vermittelt wird, sondern vielmehr eine andere Art des Lernens: Neugier, Spaß am Experiment, Staunen.
Wir erinnern uns an den damaligen Ministerpräsidenten Bayerns, Edmund Stoiber, der den Bildungsplan für die bayerischen Kitas vorstellte, indem er tatsächlich die Worte Lehr- und Stundenplan im Munde führte. Es war eine Horrorvorstellung für Eltern, dass Kitas ähnlich wie bayerische Ja-Sager-Kabinette zu Strammsteheinrichtungen werden könnten.
Das "Haus der Kleinen Forscher", getragen von der Helmholtz-Gemeinschaft, dem größten deutschen Forschungsarbeitgeber, hat glücklicherweise eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Versuchen und Spaß haben heißt ihre Lernphilosophie, aber nicht pauken und schwitzen. "Wir wollen keine fertigen Antworten liefern", sagt Geschäftsführer Peter Rösner.
Die Helmholtz-Gemeinschaft will ihr Programm nun sogar ausweiten – auf die Schulen. Das muss eine sehr beunruhigende Nachricht für die Länderkultusminister sein. Denn die lassen sich bekanntlich nicht gern hineinregieren in ihre Lehrplananstalten. Aber auch wenn der Helmholtz-Präsident, Jürgen Mlynek, es noch vorsichtig formuliert, seine Ankündigung, die offene Suche nach Antworten in die Schulen zu tragen, ist eine veritable Kampfansage.
Denn in den Grundschulen wird noch ganz anders gearbeitet. Offene Suche nach Antworten, das findet man dort allenfalls in den beiden ersten Lernjahren. Ab der dritten Klasse gibt es dort, nicht zuletzt weil rücksichtslose Eltern ihre Kids Richtung Gymnasium gepeitscht sehen wollen, alles möglich zu erleben – nur keinen Spaß am Lernen.
In Bayern steht man kurz davor, eine Art Grundschulabitur einzuführen – 22 Prüfungen in der vierten Klasse. Drittklässler müssen fest formatierte Prüfungen im Multiple-Choice-Verfahren schreiben, damit der Übergang aufs Gymnasium – man höre und staune – gerecht zugeht. Taucht mal eine offene Frage auf, wird der Verweis angebracht: "Es muss alles richtig geschrieben sein!" Die Kids haben täglich zwei Stunden Hausaufgaben.
Wenn man Kindern den Spaß am Lernen und die Liebe zu einem Gegenstand beibrigen will, dann muss man es so machen. In Nordrhein-Westfalen laufen die Eltern in Scharen den Boot-Camp-Grundschulen davon. Es gilt für ganz Deutschland: Die bei weitem dramatischste Flucht in die Privatschulen findet bis zur vierten Klasse statt. Die Zahl der privaten Grundschüler, obwohl es sie qua Grundgesetz nur in Ausnahmefällen gibt, hat seit Pisa um 63 Prozent zugenommen.
In Deutschland ringen sei je zwei pädagogische Stile miteinander: der preußische, der Schulen wie effiziente Behörden organisiert und das Wissen gewissermaßen von oben in die Köpfe hineinadministrieren will. Und die reformpädagogische Linie von Friedrich August Fröbel und anderen, die Kinder als vollwertige, neugierige Wesen begreift, die vor allem eins können: selbständig lernen.
Jeder weiß es und Videostudien aus dem Unterricht belegen es, dass die industriell bürokratische Schule des 19. Jahrhunderts ("Einer an alle") die nach wie vor dominante ist. Freilich schreiben wir das Jahr 2009, und die Lernform des 21. Jahrhunderts ist die des individuellen, selbständigen Lernens. In den Web2.0-Communities heißt das Prinzip Schwarmintelligenz. ("Alle mit allen").
Stoff und Sinn kommt nicht aus dem Lehrplan – den machen wir selber. So praktizieren es die wenigen modernen Schulen, und das "Haus der Kleinen Forscher" ist eine Variante davon. Es wird Zeit, dass die Kleinen Forscher die Schulen erobern.
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