Hauptstadtmusik: „Bin bei Aurora!“
■ Von einem Orchester, E.T.A. Hoffmann und schon wieder vom Geld, was fehlt
Und abermals muß ein heiliger Eid gebrochen werden! Sollte doch dieser kleine Kasten nie und niemals wieder über die Opernmetropole Berlin berichten (jedenfalls, beim Zeus, nicht mehr in dieser Saison!). Denn erstens wird der Kampf der drei Giganten auf Dauer öde. Zweitens passieren auch noch andere, ungleich aufregendere Dinge – wie z. B. die derzeit drohende Abwicklung des Radio-Sinfonie-Orchesters (West), das, wie letzte Woche bekannt wurde, kaltlächelnd mittels einer subtilen Strategie von Umschichtung und Fusionierung dem nationalen Hörfunk geopfert und einer künftigen „Klangkörper-GmbH“ eingemeindet werden soll.
Das RSO hat immerhin eine achtbar lange und vorzügliche Orchesterkultur unter Fricsay, Maazel und Ashkenazy aufzuweisen sowie ein außergewöhnlich cleveres Programm. Zwar lösen sich gute Musiker nicht von alleine in Luft auf, bloß weil sie unter einem anderen Dach weiterspielen müssen. Aber der Fusions- und Finanzplan der unmusikalischen Hauptstadt- und Hörfunk-Politiker läuft, wie RSO-Intendant Weingarten erklärte, darauf hinaus, daß erst aus einem guten Orchester zwei schlechte und dann aus zwei schlechten ein noch schlechteres gemacht wird. Besser wäre: drei bessere. Bliebe es, wie's ist, wäre das auch nicht schlecht.
Drittens schließlich sang neulich Unter den Linden, als wieder einmal eine dieser gewaltig hochgestapelten und tiefer unter Niveau plazierten Staatsopern-Premieren anstand, eine der gepuderten Perücken frontal ins Publikum: „So laßt mich in Frieden mit Eurer Kritik“. Das war gar nicht persönlich gemeint, das stand nur so in seiner Rolle. Aber anwesende Opernkritiker, die sowieso gerade genug hatten von dieser überzuckerten Zwangsportion Palatschinken (man gab, weiß der Himmel warum, „Capriccio“ von der Fa. Strauss/Krauss), dachten sich (auch das nicht persönlich gemeint): Gut, o.k., dann nicht. Lassen wir das mit dem Opern-Kritisieren. Vergessen wir diesen Abend so schnell wie möglich.
Kurz darauf, plötzlich und unerwartet, kam dann aus ganz anderer Ecke ein Zeichen und Wunder. Draußen am Rande, mitten im lauten, lachenden, krachenden Proletenkiez, quasi direkt in der Neuköllner Einkaufshölle zwischen Hertie und C&A, haben ein paar junge Leute eine vollständig abendfüllende, eine große, romantische, idealistische, pralle Oper ausgegraben, die von dem vergessenen Komponisten E.T.A. Hoffmann stammt. Und sie haben gezeigt: daß es sich dabei nicht um das nette Hobby- Machwerk eines genialen Dichters handelt, der nebenher noch die Musik liebte und es mal selbst ausprobieren wollte.
„Aurora“ war immerhin E.T.A. Hoffmanns fünfte Oper, sie wurde komponiert für das Bamberger Theater (1811/12) und nur deshalb nicht aufgeführt, weil Hoffmann 1813 aus Bamberg wegging. Das Erstaunlichste an dem Stück sind die harmonisch gewagten, hochdramatisch glühenden Ensembleszenen. Auch die Chöre sind enorm vital, und die musikdramatische Struktur geradezu revolutionär: eine damals neue Mischung aus deutschem Singspiel, französischer „tragédie lyrique“ und italienischer Seria, sowie zusätzlich einer original hoffmannesken Zutat an idealischer Ironie im Tonfall, für die es kein Vorbild und keine Vergleichsgröße gibt.
Manches freilich an der Verknüpfung von Sprechtext und Ariosi wirkt fragmentarisch. Einige musikalische Formeln sind abgedroschen, und ein paar allzubekannte Floskeln finden sich im Orchestersatz. Ritter Gluck läßt grüßen. Aber man hört auch schon Webers „Freischütz“ trapsen. Man merkt mal wieder, was, im Vergleich gehört, Beethovens „Fidelio“ für ein schreckliches Machwerk ist. Wagners frühe Jugendsünde „Die Feen“ dagegen wirkt zum Beispiel, was das rein romantisch und peinlich biedermeierliche des Stoffes anbetrifft, kaum weniger absurd als „Aurora“ und ist dabei musikalisch weitaus weniger professionell, und des lustigen Lortzing einzige ernste Oper „Regina“ beinahe ähnlich unausgegoren. Kurz: E.T.A. Hoffmanns „Aurora“ paßt genau in jene Gedächtnislücke unseres Opernrepertoires, die es längst schon dringend auszufüllen galt.
Die Inszenierung der Neuköllner erklärt sich die Fremdheiten des Stückes, indem sie dazu auf freundliche Distanz geht. Das funktioniert, ganz ohne Denunziation, und ergibt sogar prächtige und phantastische Bilder. Das gutbürgerliche Wohnzimmer klappt auf, die Göttinnen mischen sich unter das gemeine Prinzen- und Prinzessinnenvolk, der Himmel steht offen und ein Schild weist an: „Bin bei Aurora!“ Das Orchester ist leider, zumal in den Streichern, zu piepsig und nicht mutig genug, die Bläser (die Soloflöte vor allem) sind besser. Die jungen Nachwuchssänger müssen sich, weil es Koloraturen von italischen Ausmaßen gibt, schon ziemlich nach der Decke strecken. Musikalisch reicht es nicht. Darstellerisch dagegen sind alle gut, und das Liebespaar sogar große Klasse. O ja, um die Liebe geht es nämlich ausschließlich und hauptsächlich in dieser Oper, wie in allen großen Opern – und wer die Oper liebt, muß nun auch zu „Auroren“ gehen. Aber schleunigst.
Das Stück kann leider nur zehnmal gegeben werden, denn die Neuköllner Oper ist nur ein schwach subventioniertes Privattheater – jede Aufführung reißt, selbst wenn das Publikum Liebhaberpreise zahlen würde, tiefe Löcher ins Budget. Wenn ich an die vielen guten öffentlichen Gelder denke, die anderswo in reichlich geist- und gottverlassenen Opernproduktionen stecken: dann möchte ich mich auf der Stelle auf die Knie werfen und Kultursenator plus Kultusminister um ein paar Extra-Riesen für diese „Aurora“ anflehen. Aber weil solche Appelle ja meist nichts nützen, leiste ich hiermit einen neuen heiligen Eid, bei Zeus dem Donnerer! Wenn er auf der Stelle einen netten, reichen Mäzen vom Himmel wirft, dann will ich fürderhin wieder täglich eine Opernkritik schreiben und/oder lesen. (P.S.: Auch das RSO gräbt in der nächsten Spielzeit eine Oper aus: „Flammen“, von Ervin Schulhoff, konzertant). Eleonore Büning
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