Harry Potter: Ein moderner Erziehungsroman
Am Freitag werden Buchläden gestürmt und bange Fans erfahren, ob Harry Potter sterben muss. Vorab eine Gesamtwürdigung dieses Paralleluniversums.
Haben Sie schon einmal Kindern beim Harry-Potter-Spielen zugesehen? Sie fuchteln mit ihren selbstgebastelten Zauberstäben und rufen sich lateinische Flüche zu. Stupor! Expelliarmus! Avada Kedavra! Stundenlang. Gleichermaßen fasziniert von der Fremdheit der Wörter und den strikten Regeln ihrer Auswirkung.
Weltweit warten fiebrig Millionen Leser, die wissen wollen, wie Harry sein letztes Schuljahr in Hogwarts verbringt. Ihre Durststrecke endet morgen: Dann darf die englische Ausgabe verkauft werden. Der Bloomsbury Verlag erlaubt den Verkauf eine Minute nach Mitternacht; wegen der Zeitverschiebung gegenüber Großbritannien ergibt sich für Deutschland als Erstverkaufstermin 1.01 Uhr. Wer durchhält, darf ab dann sein Exemplar von "Harry Potter and the Deathly Hallows" erwerben, sowohl große Kulturkaufhäuser als auch lokale Buchhandlungen laden wieder zum gemeinsamen Einkaufswahnsinn. Wer Online vorbestellt hat, kann damit rechnen, im Laufe des Samstags beliefert zu werden. Bisher sind weltweit 325 Millionen "Harry Potter"-Bände verkauft worden. Die deutsche Auflage liegt bei 25,2 Millionen Exemplaren.
Wie viele Erwachsene habe auch ich meine Verneinungsgeschichte mit Harry Potter. Ich hätte die Bücher nie gelesen, denn ich habe eine tiefe Abneigung gegen das Fantasygenre. Aber das erzwungene Vorlesen der Bände 1 bis 5 hat seinen immer wieder kolportierten Effekt auch bei mir nicht verfehlt: Man wird mitgerissen von den Figuren, von der Geschichte, und fiebert der Fortsetzung entgegen. Band 6 war der einzige Moment, in dem ich die zwischenzeitlich stabilisierte Lesefähigkeit meines Sohnes bedauert habe. Er hat ihn allein gelesen.
Mit Eskapismus lässt sich diese Faszination ebenso wenig erklären wie mit einer "Remythisierung", einer "ästhetischen Wiederverzauberung" (Norbert Bolz) in unserer entzauberten, aufgeklärten Moderne. Solche Befunde sind unbefriedigend. Sie übersehen, dass es sich bei den Romanen auch um ein Paralleluniversum handelt, das unserem sehr ähnlich ist. Sind sie also säkularer Religionsersatz oder Spiegel unserer Welt? Die Fragestellung allein zeigt bereits, wie komplex diese Bücher sind. Eine Komplexität, die sich dem allseits beschworenen Grundmuster des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse widersetzt. Nach diesem Muster funktionieren Fantasygeschichten. Aber eine Geschichte, in der es ebenso eine Menschen- wie eine Zaubererwelt gibt, die wiederum in Gut und Böse gespalten ist, was aber keine strikte Unterscheidung ist, da sie Gesinnungswandel ebenso wie Opportunismus zulässt? "Harry Potter" sprengt das Fantasygenre.
Die Menschenwelt hat eine besondere Funktion in diesem Setting. Es ist wohl allseits bekannt, dass selbige Muggel heißen - also konsequent aus der Zaubererperspektive betrachtet werden. Damit ist klar, dass die Zaubererwelt ein Außen kennt. Dieses Außen ist zentral, es garantiert die Realität des Potter-Universums in mehrfacher Hinsicht. Zum einen existiert dieses neben oder quasi inmitten unserer Muggelwelt - wie das Gleis 9 ¾ für die Abfahrt des Hogwartsexpresses zwischen Gleis 9 und Gleis 10 liegt. Es könnte also tatsächlich existieren. Der Muggelleser muss seine Lebenswelt nicht transzendieren, um an dieses "Jenseits" zu glauben. Aber nicht nur für den Leser, auch für die Figuren ist der Bezug zu diesem Außen entscheidend. An ihm scheiden sich die guten von den bösen Zauberern - also jene, die für einen Multikulturalismus oder gar eine Vermischung mit den Muggeln stehen, und jene, die eine strikte Trennung, die ethnische Reinheit der Zaubererwelt fordern; die reinen Fantasy-Adepten innerhalb des Buches gewissermaßen.
Die Zaubererrealität ist also nicht das ganz Andere der Menschenwelt. Sie ist gegenüber den Muggeln nur etwas verschoben. Die zwei Welten sind zugleich ganz anders und sehr gleich. So mobilisiert die Realitätsnähe des Potter-Universums gleichzeitig Identifikation und Fantasie.
Worin aber besteht diese Realität? Bei J. K. Rowlings haben wir es mit der Komplexität einer Fantasiewelt zu tun, in der Magier gleichzeitig auch eine Verwaltung haben - das Unmagischste schlechthin. Neben dem Ministerium hat diese paradoxe Welt noch eine zweite wesentliche Institution: Hogwarts, eine Schule. Mit der Verwaltungseinheit Ministerium und der Reproduktionseinheit Schule und deren jeweiligen Amtsinhabern, dem Minister und dem Schulleiter, ist diese magische Welt alles andere als irrational.
Sie präsentiert sich vielmehr als eine Mischung von bürokratischer und traditionaler Herrschaft, eine Verbindung von rationaler, regelgeleiteter Macht mit einem Alltagsglauben an die Traditionen. So sieht bei Harry Potter die Seite des Guten aus. (Wobei selbst das nicht eindeutig ist, denn das Ministerium ist schon mal gekippt und hat sich in eine totalitäre Bürokratie verwandelt.) Ihr Gegenspieler, Lord Voldemort, repräsentiert die dritte Form der Herrschaft, die regelfremde, die charismatische Macht.
Damit spielen die Bücher im Spannungsfeld der drei klassischen Herrschaftsformen, die in der Soziologie von Max Weber auf den Begriff gebracht wurden. Damit sind wir auch beim zentralen Thema: dem Charisma, selbst wenn dieses Wort kein einziges Mal auftaucht. Die Bücher, könnte man sagen, schildern den Konflikt zwischen charismatischer und traditional-bürokratischer Macht. Wobei dieser Konflikt selbst wiederum nicht reduzierbar ist auf die Konfrontation zwischen Institution und Charisma. Vielmehr haben die Figuren, die diesen Institutionen vorstehen - allen voran der Schulleiter Albus Dumbledore -, nicht weniger Charisma als deren Herausforderer. Nur hat Dumbledore seine charismatischen Fähigkeiten in den Dienst der Ordnung gestellt, während Voldemort eben diese nützt, um die Macht (zurück) zu erobern. So dass Charisma sowohl das zentrale Moment ist, das die magische Ordnung stützt, als auch das, was sie bedroht. Dumbledore ist nicht der "Herrscher der weißmagischen Welt", wie der Potter-Kenner Michael Maar schreibt, er ist in erster Linie deren Amtsinhaber. Dies ist genau jene entscheidende Differenz, um die die tödliche Auseinandersetzung geführt wird: Steht das Charisma innerhalb der Ordnung - oder außerhalb.
Dieser Kampf hat noch ein Spezifikum, das sich mit zunehmender Bedeutung durch alle Bände zieht. Harrys Siege über Voldemort gründen letztlich auf der magischen Kraft von Liebe, Treue und Freundschaft. Dieser Umstand verliert seine Plattheit, wenn man ihn mit dem zusammen liest, wogegen er steht: Der nahezu tote Lord kehrt als Parasit an anderen Lebewesen bzw. in wechselnden Partialobjekten, den sogenannten Horkruxen, wieder. Das sind Dinge, magische Behälter, in denen er noch zu Lebzeiten seine Seele bzw. Teile seiner Seele aufbewahrt hat. Das Böse besteht (auch) in einer Parzellierung der Seele, in der Auflösung der Einheit der Person und des Körpers also, die ein wesentliches Thema der Bücher ist. Während das Gute (auch) darin besteht, an der Einheit der Person, der Identität, ebenso wie an der historischen - etwa der familiären - Kontinuität festzuhalten.
In dieser Konfrontation erhält das Liebe-Treue-Freundschaft-Motiv eine ganz andere Konnotation: Es wird zu einer Stütze der traditionalen Ordnung, die wesentlich durch Kontinuität zusammengehalten wird. Dabei sollte man nicht vergessen, dass bereits bei Max Weber die traditionale Herrschaft meist aus der Versachlichung, der Veralltäglichung des Charismas, aus seiner Institutionalisierung also hervorgeht.
In diese Ambivalenz ist auch Hogwarts, die Zaubereischule, eingeschrieben. Sie ist keine gnostische Sekte, die geheime Wahrheiten weitergibt, sondern eben eine Schule, die Können lehrt. Jeder weiß, der Fluch "Expelliarmus!" dient der Entwaffnung des Gegners. Aber das Wissen allein reicht nicht aus. Das ist genau jene Grenze der Zauberei, die Rowlings für so relevant hält. Man muss den Zauber also können. Worin aber besteht dieses Können? In viel historischem Wissen, wie es die eifrige Hermine Granger verkörpert, aber in letzter Instanz in den magischen Fähigkeiten, der Begabung, die nichts anderes als eben Charisma ist. Damit überlebt man sogar den Todesfluch.
Eine Schule, die solch Außeralltägliches lehrt, steckt in einer ausweglosen Aporie (darin den Muggelschulen letztlich verwandt). Zum einen soll sie durchschnittliche, normale Zauberer hervorbringen, die den Zaubereralltag - denn auch einen solchen gibt es in der paradoxen Potter-Welt - meistern sollen. Auf der anderen Seite bedarf sie der Ausnahmefiguren für die existenziellen Kämpfe ebendort. Denn Hogwarts ist nicht nur Vorbereitung fürs Zaubererleben, sondern auch der Schauplatz, an dem deren Konflikte ausgetragen werden.
In diesem Sinne muss sie eine besondere Erziehung leisten. Sie muss sowohl ein Wissen vermitteln, das erlernt und eingeprägt werden kann, wie auch jene Fähigkeiten, die nur "erweckt und erprobt" werden können, also das, was Max Weber als "charismatische Erziehung" bezeichnet hat. Was das bedeutet, hat er aber nicht dazu gesagt. Bei Harry Potter sehen wir es deutlich: Die magischen, die charismatischen Fähigkeiten, die bei Harry geweckt werden, sind immer auch rebellische Energien - vielleicht sind sie sogar nichts anderes als das. Das zeigt sich nicht zuletzt an der dramaturgisch genialen Nähe von Harry und Lord Voldemort, an der Verwandtschaft ihrer magischen Fähigkeiten. Das entscheidende Moment dabei ist, die geweckten Energien zu kanalisieren, das Charisma zu integrieren. In der Geschichte werden die Weichen hiefür bereits ganz am Anfang gestellt, als Harry bei der Aufnahme in die Zaubererschule in jenem Haus in Hogwarts landet, das die Guten beherbergt, und nicht in jenem, in dem Voldemort früher Zögling war. Bei Rowlings erfahren wir sehr anschaulich, dass die Differenz zwischen Gut und Böse keine substanzielle, sondern nur eine der Zielrichtung ist. Richten sich dieselben Kräfte gegen die Ordnung oder stützen sie diese? Das Böse ist die Kraft, die für die erste Option votiert hat, das Gute ist die Kraft, die sich integriert. Harry Potter - ein moderner Erziehungsroman.
Damit erfahren wir aber auch, wie labil unsere politische Ordnung ist. Denn sie beruht auf einem unlösbaren Widerspruch: Die Institutionalisierung, die Rationalisierung der Macht allein reichen nicht aus. Ein politisches System braucht immer wieder eine Zufuhr von charismatischen Energien, die es gleichzeitig auch bedrohen. Es ist also gezwungen, den rebellischen Geist immer wieder zu erwecken und gleichzeitig durch Selbstverpflichtung zu zähmen. Ein heikles und unabschließbares Unterfangen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind