piwik no script img

taz FUTURZWEI

Harald Welzer über Zusammenhalt Wer ist das Volk?

Das Volk gibt es nicht mehr, das Volk kennt sich selbst nicht mehr. In einem rasanten Prozess der Erosion des Gemeinsamen wird die liberale Demokratie Beute ihrer Feinde. Doch es gibt eine Antwort.

Wer ist das Volk? Ein AfD-Abgeordneter filmt Menschen an einer Gegendemonstration. Foto: dpa

taz FUTURZWEI | Wer das Volk ist? Weiß man nicht so genau. Bei den   Demonstrationen in der DDR vor dem Mauerfall richtete sich die Mitteilung „Wir sind das Volk“ an die Volkspolizei, als Erinnerung, wer denn eigentlich deren Dienstherr ist.

Aber heute ist dieses „Wir“ aufgelöst in Teile, erleben alle Demokratien den Zerfall ihrer konstitutiven Annahme: dass eine Gesamtheit von rechtlich gleichen Bürgerinnen und Bürgern, die in regelmäßigen Wahlen unterschied­li­chen Repräsentanten die Aufgabe überantwortet, im wohl­meinenden Streit die allgemeinen Angelegenheiten zu regeln.

Jens Steingaesser
Harald Welzer

Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Sozialpsychologe und Mitherausgeber des Magazins für Zukunft und Politik tazFUTURZWEI.

Diese Gesamtheit ist mehr und mehr in Teilgruppen zerfallen, die jede für sich das Allgemeine in ihrem partikularen Sinn definiert und für die Durchsetzung ihrer jeweiligen Interessen kämpft – also nicht mit-, sondern gegeneinander.

Zudem sind Stimmungen, Überzeugungen und Einstellungen volatiler geworden; wie lange und warum man für x oder gegen y ist, dieser oder jener Partei oder einer tagesaktuellen Auffassung anhängt, schwankt mit der medialen Aufregungsökonomie.

Raum für Feinde

Stammwählerschaften schwinden, das Parteienspektrum diversifiziert sich, Partikularinteressen lassen Regierungen in Zerstrittenheit arbeiten und auftreten. Das Volk gibt es nicht nur nicht mehr, es kennt sich selbst auch nicht mehr. In einem solchen Prozess der Erosion des Gemeinsamen wird Demokratie zu einer stolpernden Regierungsform, denn der Streit in ihrem Inneren kann nur produktiv werden, wenn er im Rahmen eines Gemeinsamen stattfindet.

Fehlt dieses Gemeinsame, ist das die Gelegenheitsstruktur, die Antidemokraten bewirtschaften können. Jede demokratische Gesellschaft hat die Feinde, die den Raum nutzen, der ihnen eröffnet wird.

„Massenhaft abschieben“, sagt sogar der Bundeskanzler, und alles wundert sich trotzdem, warum schnieke Bürgerkinder auf Sylt „Ausländer raus“ skandieren.

Von daher ist die Chance der Menschenfeinde, die jetzt fast überall in den (ohnehin weniger werdenden) Demokratien wirkmächtig werden, hausgemacht – kein Angriff von außen, sondern von innen, mit demokratischen Mitteln. Genau deshalb ist die etablierte Politik so sprachlos und handlungsunfähig angesichts des offensichtlichen Erfolgs der Rechtsextremen und Populisten; sie haben noch nicht einmal verstanden, dass sie als Demokraten plötzlich im Wettbewerb um die Demokratie stehen. Zu diesem Wettbewerb, und das ist das große Versäumnis der letzten beiden Jahrzehnte, sind sie bislang noch gar nicht angetreten.

Rechtsdrall

Seit der Coronapandemie wissen alle, was eine exponentielle Entwicklung ist – die Sache mit dem Teich, auf dem sich die Zahl der Seerosen jeden Tag verdoppelt: Nachdem er halb bedeckt ist, der Teich, wie viele Tage braucht es dann, bis er unter den Seerosen komplett verschwindet? Haben wir alle gelernt: Nur noch einen einzigen, am nächsten Morgen ist kein Teich mehr sichtbar. Geht auch mit Reiskörnern auf dem Schachbrett oder eben mit den Fallzahlen bei der Ausbreitung eines Virus. Das hat damals die Kanzlerin den Deutschen erklärt, seither weiß man das.

Ich hege seit einiger Zeit den Verdacht, dass es exponentielle Entwicklungen auch im Sozialen gibt: Bestimmte Entwicklungsschritte intensivieren sich von Tag zu Tag, und weil das zunächst erst einmal ein schleichender, unauffälliger Prozess ist, fällt das niemandem auf. Also: Da taucht eine neue Partei auf, ihr Gründer ist ein etwas skurriler Professor, der will gar nichts besonders Böses, nur den Euro abschaffen.

Die Sache entwickelt sich mit so Ex-Konservativen an der Spitze auf der Suche nach Bedeutsamkeit im Alter, Ex-FAZ-Journalist Konrad Adam, Ex-BDI-Chef Olaf Henkel, Ex-CDU-Politiker Alexander Gauland. Da wird sie schon rechter, und bald wird sie gehijackt, ihr Personal wird rechtsradikaler und die, die man noch dem konservativ-bürgerlichen Lager zurechnen konnte, werden abgelöst durch solche, die man als Teil einer rechten Internationale betrachten kann, die den liberalen Rechtsstaat zerstören will.

Entrechtung der Geflüchteten

Während des Jahrzehnts, in dem sich das alles vollzieht und nachdem die Partei in Ostdeutschland Mehrheiten gewinnen kann und in Westdeutschland vor der SPD und den Grünen rangiert, sind Deutschland und Europa in Fragen der Migrations- und Flüchtlingspolitik parallel immer weiter in Richtung Entrechtung der Geflüchteten marschiert – bis hin zu der politisch wahrlich frivolen Idee, anderen, menschenrechtlich wenig skrupulösen Ländern das europäische „Flüchtlingsproblem“ zu verkaufen: Algerien, Libanon, Ruanda, ihr bekommt Knete, erledigt das für uns.

Innenpolitisch fackelt das Thema immer weiter, wird angefacht in Wahlkämpfen, befeuert durch gegenmenschliche Rhetoriken. Christliche Parteiführer soufflieren der Original-AfD Geschichten, die die selbst öffentlich gar nicht erzählt hätten – von den Flüchtlingen, die sich die Zähne machen lassen, während die arischen Deutschen im Wartezimmer sitzen. „Massenhaft abschieben“, sagt sogar der Bundeskanzler, und alles wundert sich trotzdem, warum schnieke Bürgerkinder auf Sylt „Ausländer raus“ skandieren.

Doppelbewegung der Demokratiefeinde

Auch auf EU-Ebene ist aus dem Fluchtproblem längst ein Flüchtlingsproblem geworden; man schottet sich weiter ab, schleift rechtliche und soziale Standards, das Asylrecht wird in­frage gestellt. Das klassische rechte Gewinnerthema „Angst vor Einwanderung und 'Überfremdung'“, wird so zum thema­ti­schen Standardinventar der etablierten Parteien.

Das ist der systemische Erfolg der Rechten, die fast überall in Europa und in den USA kontinuierliche Geländegewinne verzeichnen konn­ten. Führt man sich diese Entwicklung nüchtern vor Augen, kann man ja mal die Frage stellen, wie weit die Seerosen den Teich schon bedecken? Sind wir bei einem Viertel oder schon bei der Hälfte?

Der Aufstieg der Demokratiefeinde erfolgt in einer konvergenten Doppelbewegung: Die Rechten werden mehr, und die Noch-nicht-Rechten übernehmen mehr ihrer Inhalte. In der Suchtforschung kennt man den „Ko-Alkoholiker“ – die Partnerinnen oder Partner, die den Süchtigen decken und nach innen und außen heile Welt demonstrieren und genau damit helfen, die Sucht fortzusetzen. Vielleicht haben wir in der Politik auch schon Ko-Antidemokraten, nämlich all jene, die durch ihre Rhetorik die wahren Verhältnisse zudecken und sich auch selbst suggerieren, dass sie die Probleme schon im Griff haben. Das glaubt ihnen, wie alle Umfragen zum Politikvertrauen zeigen, kaum noch jemand.

Dem Volk ein Angebot machen

Die gefühlt sehr große und faktisch zu große Distanz zwischen den politischen und medialen Eliten einerseits und dem „Volk“ andererseits wirkt als Erosionskraft auf die Demokratie, aber diese Distanz wird allein von der AfD und dem BSW bewirtschaftet und vergrößert, nicht von den etablierten Parteien verkleinert. Diese Distanz zu überwinden ist aber keine Frage der Kommunikation, wie der Politik von den Agenturen listig erzählt wird, sondern eine der politischen Praxis, die von der Reaktivität und dem Spekulieren auf Umfragewerte zu Ideen zur Gestaltung der Gesellschaft zurückkehren muss.

Die grundlegende Gestaltungsfrage ist, wie man unter den geo- und machtpolitischen Verschiebungen und den Stressbedingungen eines sich verändernden Klimas eine demokratische freiheitliche Ordnung aufrechterhalten kann, die mit Grund Aussichten auf ein sicheres und auskömmliches Leben für alle ihre Mitglieder bietet. Diese Frage muss von einem grunderneuerten Konservatismus genauso adressiert werden wie von angegrünten Sozialliberalen, und beide werden das wiederum nur können, wenn sie sich von längst schal, dysfunktional oder auch nur unglaubwürdig gewordenen Stereotypen ihres Parteienimagos verabschieden.

Vielleicht ist Modernisierung die sachlichste und coolste Antwort auf die bislang erfolgreiche Restauration der Gesellschaften, wie sie die Rechten betreiben. Es geht um die Anstrengung, dem Volk ein Angebot zu machen, das es annehmen möchte. Ein solches Angebot muss von unten aufgebaut werden und praktisch sein, sich also in real erfahrbare, analoge Veränderungen in den Gemeinden, auf der kommunalen Ebene, vor Ort manifestieren. Das ist, was gute Bürgermeisterinnen und -meister erfolgreich macht – die spürbare Daseinsvorsorge in Gestalt von Nahverkehr, Arztpraxen, Schulen, Einzelhandel, Sportstätten und öffentlichen Räumen mit Aufenthaltsqualität ohne Konsumverpflichtung.

Basisarbeit

Das hört sich sehr altmodisch an in Zeiten allgegenwärtiger smartness und willkürlicher Verpflichtung zur digitalen Teilhabe, aber das Demokratische ist konkret und analog. Die Frage „Wer ist das Volk?“ lässt sich nicht mehr beantworten, wenn dessen Gemeinsames als Kollektivsubjekt der Demokratie zersplittert ist. Aber gerade, wenn ein Gemeinsames auch emotional nicht mehr erfahren wird, wird das autoritäre „Wir“ der Trumps, Le Pens, Melonis und Orbans attraktiv, als verlockendes Angebot einer Zugehörigkeit, die immer durch eine „Sie-Gruppe“ der Nicht-Zugehörigen definiert ist. Und wenn die Gegenseite in einer exakt gespiegelten binären Logik ein umgekehrtes „Sie“ und „Wir“ postuliert, wird Feindschaft zum Austragungsort des Politischen und nicht mehr der wohlmeinende Streit. Da sind wir jetzt. Und da müssen wir raus.

Weil alle gutgemeinte Aufklärung weit hinter der Dynamik des Aufstiegs der Rechten zurückbleibt und es in Zukunft auch darum gehen muss, überhaupt die Spielräume für demokratische Basisarbeit in der Kommunalpolitik, von Stiftungen und Initiativen abzusichern, hilft nur noch das scheinbar Paradoxale: nicht die große Politik und die großen Begriffe, sondern die konkrete, kleinteilige politische Arbeit vor Ort. Bündnisse mit Organisationen wie der freiwilligen Feuerwehr, dem Roten Kreuz, mit Umweltorganisationen, mit Volkshochschulen und Kirchen, und ein verstärktes Engagement im sogenannten vorpolitischen Raum. Mag sein, das ergibt auch eine Lerngeschichte für die Politik, die ja dringend ein paar Infusionen aus der Wirklichkeit braucht.

Dieser Beitrag ist in unserem Magazin taz FUTURZWEI erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe von taz FUTURZWEI N°30 gibt es ab dem 10. September im taz Shop.