: Handlungsreisende für die Zivilgesellschaft
Zum 19. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe besucht eine NRW-Delegation Weißrussland. Die Gäste versuchen den Spagat aus humanitärer Zusammenarbeit und Kritik am autokratischen System des Präsidenten Lukaschenko
MINSK taz ■ Obwohl das Reaktorunglück von Tschernobyl in der Ukraine geschah, waren doch vor allem die Weißrussen vom radioaktiven Fallout betroffen. Mit einer Schweigeminute gedachten deshalb am Dienstag die Abgeordneten der weißrussischen Nationalversammlung in Minsk den Opfern. Mit dabei waren am 19. Jahrestag der Katastrophe vier deutsche Parlamentarier aus dem Düsseldorfer Landtag.
„Die Beziehungen zwischen Belarus und Deutschland haben sich bis Mitte der 90er Jahre verheißungsvoll entwickelt“, so der dienstälteste NRW-Abgeordnete und Ex-Landtagsvizepräsident Hans-Ulrich Klose (CDU), der als erster Deutscher vor dem Parlament der Republik Belarus sprechen durfte. „Bedauerlicherweise haben Sie dann den Weg der Selbstisolierung gewählt.“ Klose kritisierte die Besteuerung von Spenden aus Deutschland, was karitativen Einrichtungen ihre Arbeit erschwere und forderte die Abgeordneten auf, die entsprechenden Gesetze zu ändern: „Bitte erleichtern Sie unsere humanitäre Arbeit.“ Der belarussische Parlamentsvizepräsident Sergej Makarowitsch versprach gegenüber der taz zumindest eine wohlwollende Überprüfung.
Darauf alleine wollte sich Barbara Gladysch vom Düsseldorfer Verein „Kinder von Tschernobyl“ nicht verlassen. Sie kam als eine von rund fünfzig deutschen Belarus-AktivistInnen mit der vom Dortmunder „Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk“ (IBB) zusammengebrachten Delegation nach Minsk. Im Parlamentsfoyer protestierte die Düsseldorferin in einem T-Shirt mit der dort als provokativ angesehenen Aufschrift „Ich bin mit dem belarussischen Volk“ gegen die autoritäre Politik von Präsident Alexander Lukaschenko: „Wir befürchten, dass uns der Empfang von Tschernobyl- geschädigten Kindern in Deutschland unmöglich gemacht wird.“ Zudem überbrachte sie eine an den Präsidenten gerichtete Petition von 400 Düsseldorfern, die gegen ein mögliches Verbot der Erholungsreisen protestieren.
Der IBB hält mit Unterstützung der deutschen Politik einen humanitären Kanal zu dem aufgrund der Lukaschenko-Diktatur international geächteten Land offen. „Seit über zehn Jahren ist das von uns und den belarussischen Partnern hier in Minsk unterhaltene Bildungs- und Begegnungszentrum ein Ort der deutsch-belarussischen Kooperation auf nicht-staatlicher Ebene“, so IBB-Geschäftsführer Peter Junge-Wentrup. Zudem arbeiten junge Historiker aus beiden Ländern in einem der letzten noch bestehenden Häuser des ehemaligen Ghettos in einer Geschichtswerkstatt an der Aufarbeitung der NS-Vernichtungspolitik. In Deutschland aber auch in Belarus sind riesige Todeslager wie Trostenez vor den Toren von Minsk bisher bei der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt.
In die Zukunft gerichtet ist die Arbeit vieler anderer Initiativen, die an der Fahrt nach Minsk teilnehmen. Eine weiterer Verein „Tschernobyl-Kinder“ arbeitet in Mülheim/Ruhr. Herbert Wohlhüter aus Bethel kann auf eine mehr fast fünfzehnjährige Zusammenarbeit mit der orthodoxen Kirche in Minsk zurückblicken. „Ohne die Hilfe aus Bethel könnten wir unsere Behindertenwerkstatt nicht unterhalten“, bedankte sich Vater Igor. 80 behinderte Menschen arbeiten dort ohne jeglichen staatlichen Zuschuss. Seit 1995 besteht der Minsk Club in Bonn, der seine Aufgabe darin sieht, die offizielle Städtepartnerschaft mit Leben zu füllen. „Es existiert ein Praktikanten- und Ärzteaustausch, wir organisieren Kunstausstellungen und ermöglichen Ferienaufenthalte für Tschernobyl-Kinder“, so Maria Hohn-Berhorn vom Minsk Club. Neue didaktische Aspekte will die Bonner Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren in die belarussische Wissenschaftsszene bringen. „Zwei der drei Minsker Universitäten nutzen schon diese uralten Methoden des philosophischen Meinungsaustausches“, so eine Vertreterin der Gesellschaft. Ob Präsident Lukaschenko es auch tut, bleibt sein Geheimnis. HOLGER ELFES