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Hamburger fahren sehr oft zu schnell. Doch das Leben von Grundschülern ist viel zu aufregend, um auf den Verkehr zu ACHTENÜberleben auf der Straße

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Der ADAC hat mittels 53.000 versteckter Messungen herausgefunden, dass die Hamburger sich nicht an das Tempolimit vor Schulen halten. Ich würde sagen, sie halten sich auch nicht an das Tempolimit vor Kindergärten, sie fahren halt sehr oft zu schnell. Ich wohne genau zwischen zwei Grundschulen. Die Turnhalle der einen Schule liegt in meiner Straße. Die Kinder müssen von ihrer Schule aus zwei Straßen zu dieser Turnhalle überqueren, einmal vor dem Sportunterricht, einmal nach dem Sportunterricht.

Ich sehe sie, wie sie mit ihren kleinen Turnbeuteln in kleinen Grüppchen, eifrig redend, und nicht sehr aufmerksam, diesen Weg machen. Sie sollten aber aufmerksam sein, denn sie könnten von einem Auto überfahren werden. Als ich selbst ein Kind war, gab es nicht besonders viel Straßenverkehr, das lag auch daran, dass nicht besonders viele Leute ein Auto hatten, es waren die Siebziger- und die frühen Achtzigerjahre in der DDR.

Es lag auch daran, dass wir auf dem Land wohnten, viele unserer Wege waren unbefestigt und nur sehr schlecht befahrbar. Eltern brachten ihre Kinder noch nicht mit dem Auto zur Schule, da die meisten Eltern um sieben Uhr anfingen zu arbeiten und die Kinder irgendwie mehr selbst zurechtkommen mussten.

Jetzt ist es so, dass Kinder in den großen Städten große Straßen überqueren müssen, dass wir ihnen beibringen müssen, dass sie vor allen Dingen aufpassen müssen.

Kinder können aber nicht aufpassen. Sie können es einfach nicht. Sie haben wichtige Dinge zu tun, sie leben teilweise einfach in ihren Gedanken, alles, was sie sich erzählen, kommt ihnen ungeheuer wichtig vor. Ich weiß das sogar noch von mir selbst.

Wir haben früher auf dem Weg von der Schule zum Schulhort manchmal so lange gebraucht, dass es kein Mittagessen mehr gab. Das hieß damals Trödeln. Wir haben aber nicht getrödelt. Wir haben nur dramatische Gespräche geführt, geheime Beobachtungen angestellt, grüne Pflaumen gegessen, uns gestritten und versöhnt. Das Leben eines Grundschülers ist unglaublich aufregend. Ein Kind heute aber soll, während es durch die Gegend läuft, ununterbrochen im Sinn haben, dass es in Lebensgefahr schwebt.

Es soll seine Aufmerksamkeit fortwährend auf diesen einen Aspekt gerichtet halten, auf sein Überleben. Wenn ein Kind dies nicht tut, wenn es sich ablenken lässt, nicht auf den Blickkontakt mit dem Autofahrer achtet, weil sein Blick der Freundin gilt, die eben gerade einen Witz erzählt hat, dann ist das Kind unter Umständen plötzlich tot.

Kinder lernen dieses Aufpassen. Erzieher, Lehrerinnen und Eltern drillen die Kinder für den Straßenverkehr. Dennoch, Kinder haben keine wirkliche Vorstellung von der Gefahr. Wenn es ihnen wirklich klar würde, wie gefährlich ihre Umwelt tatsächlich ist, dann würden sie Tag für Tag in Angst herumlaufen. Wollen wir das? Kinder, die ständig in Angst herumlaufen? Kinder, die immer aufpassen? Was sollen aus solchen Kindern für ängstliche Erwachsene werden?

Häufig wird gesagt, der deutsche Staat würde zu sehr erzieherisch eingreifen, in die Belange der doch mündigen Bürger. Warum greift der Staat aber so wenig erzieherisch in den Straßenverkehr ein? Warum gibt es nicht an jeder Grundschule, ringsherum, Bodenwellen, Straßeneinengungen, Blitzer?

„Machen wir uns doch nichts vor“, hat ein mündiger Bürger sinngemäß den Bericht im NDR kommentiert. „Wir fahren alle sechzig oder siebzig, wenn fünfzig erlaubt sind, und dann gehen wir runter auf fünfzig, wenn da dreißig steht.“ Wir sind träge. Wir bremsen nicht gerne ab. Wir wollen vorankommen. Wir glauben, dass schon nichts passieren wird, ähnlich wie die Kinder. Mit der Schuld aber lässt es sich noch schlechter leben, als mit der Angst.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

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