piwik no script img

Hamburger Szenevon Petra Schellen„Die lebt ja noch“

Manchmal passieren wirklich absurde Dinge. Und davon so viele auf einmal, dass man denkt,man wär'im falschen Film oder hätte aus Versehen die Erlebnis-Dosis von jemand anders dazugekriegt.

Neulich zum Beispiel wollte ich eigentlich nur ein paar Einkäufe tätigen, kalt und ungemütlich im Regen. Und eigentlich ist es auch kein Problem, mit dem 25er-Bus von Winterhude nach Altona zu fahren und an der Kellinghusenstraße Leute einsteigen zu lassen. Zack, eingestiegen, zack, der Bus wendet, zack, weiter zur Ampel. Nur, dass der Bus diesmal in einer tiefen Pfütze rutscht (früher hieß das „aqua planing“) und schleudert, worauf eine ältere Dame vom Sitz fällt.

Da liegt sie dann und kommt nicht mehr hoch mit ihren zwei künstlichen Hüften. Zu viert müssen wir sie stemmen, und als sie sitzt, ist sie ganz fertig, weint. Denn sie hat noch mehr und schlimmere Krankheiten und sich erst neulich im Bus die Hand gebrochen, es ist alles zu viel.

Und wie wir so hätscheln und trösten, auch der Busfahrer ist ganz verstört, fühlt sich doch tatsächlich eine jüngere Frau bemüßigt zu sagen: „Na, sie lebt ja noch!“ Dann drängt sie zur Bustür und ruft, der Fahrer solle sie endlich rauslassen, als wäre das Ganze eine ungeheure Zumutung. Doch als ich gerade anfange wütend zu werden, tritt ein, was ich in Eppendorf und umzu schon so oft erlebt habe: Eine typische „Eppen-Mama“ tritt herzu und erklärt mir, die andere Frau habe ihre Bemerkung nicht so gemeint, das sei „aus Versehen“ geschehen“.

Wie um alles in der Welt kommt sie darauf? Ich habe nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder sie ist eine eingefleischte Gutmenschin, die für wirklich jede Untat Verständnis hat und das „Toleranz“ nennt. Oder aber sie kommt frisch vom Spielplatz, wo sie Klein-Ida gerade erklärt hat, dass Klein-Flori es „nicht so gemeint“ hat, als er ihr die Schaufel auf den Kopf schlug. Denn Klein-Flori ist erst drei und kann noch nicht „Entschuldigung“ sagen.

Die Frau im 25er-Bus ist aber deutlich über 18 und könnte es sehr wohl. Nimmt sie ihre Worte nicht zurück, muss man vermuten, dass sie sie genau so gemeint hat: boshaft. Das passt der Eppen-Mama, die Beschimpfer bemitleidenswerter findet als Beschimpfte, wohl nicht ins Weltbild. Ist aber trotzdem so.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen