Hamburger Szene von Petra Schellen: Irgendwas verwechselt
Man kann sich über alles streiten. Über die Fliege an der Wand, über den Staub auf der Straße – und, ja, über die Bedienung von Aufzugknöpfen. Das geht dann so: Man betritt, schwer beladen, den Fahrstuhl, der im Eppendorfer Supermarkt vom Keller- zurück ins Erdgeschoss fährt. Registriert zerstreut: Jemand ist schon da, okay, die Fahrt kann losgehen. Aber genau das tut sie – nicht.
Der Aufzug steht und wartet, die andere Frau – blond, toupiert, die Brille Diva-like ins Haar geschoben – guckt herausfordernd. „Ich habe noch nicht gedrückt“, sagt sie und wedelt mit ihren Tüten in meine Richtung, als wäre ich der dafür zuständige Liftboy. „Ach, und Sie hatten es auch nicht vor?“, frage ich. Steht sie da schon lange, wartend, dass ihr jemand diese lästigen Down-to-Earth-Arbeiten abnimmt? Hätte sie sich zu guter Letzt gar ans Kassenpersonal des Supermarktes gewandt, damit man ihr zu Diensten sei?
Egal, ich drücke auf „E“ und fertig, aber für meine Mitfahrerin fängt das Spiel erst an. „Warum muss denn immer derjenige drücken, der als Erster kommt?“, lamentiert sie, als ginge es um die Philosophie eines Descartes, vielleicht gar Kant und Hegel. Ich drehe mich weg, aber es hilft nichts, ihr Monolog prasselt auf meinen Rücken ein. Ich träume mich weg, wache wieder auf, sie ist immer noch dabei.
„Ich hätte schon noch gedrückt“, sagt sie, ohne sich näher über das Wann und Wie zu äußern. Dauert ganz schön lang, so eine Fahrt vom Keller- ins Erdgeschoss. Zeitgefühl ist subjektiv, das habe ich immer gewusst.
Und dann, kurz bevor ich etwas Gereiztes über „unerträgliches Dummgeschwätz“ sage, offenbart die Frau doch noch ein Gespür für Dramaturgie. Mit den Worten: „Crazy, people are crazy“, verlässt sie schwungvoll den Lift, und ich denke, dass sie da irgendwas verwechselt hat und dass das bei ihr zu Hause genauso läuft: Immer, wenn ihr Mitbewohner oder Partner ihre Passivität moniert, spult sie ihr „Ja, aber hätte ich schon noch, irgendwann, irgendwo …“-Lamento ab und nervt den anderen so lange, bis er es selbst erledigt. Funktioniert perfekt und immer.
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