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"Hair", Gegenkultur etc.Als an der Frisur die Existenz hing

Kommentar von Tobias Rapp

Das waren noch Zeiten. Als der Film "Hair" herauskam, konnte man das LSD-Schlucken noch feiern und in jedem Spießer steckte ein Freak. Heute ist es eher umgekehrt.

So war das damals: manchen wuchsen Blumen aus dem Kopf, andere waren nackig, Drogen wurden gefeiert - heute wäre das schwer vorstellbar. Bild: dpa

Es gibt Gründe, nostalgisch zu werden. Das stellt man widerwillig fest, wenn man sich "Hair" anschaut, Milos Formans Verfilmung des Musicals von Gerome Ragni, James Rado und Galt MacDermot, die dieser Tage wieder in die Kinos kommt. Nicht unbedingt, weil in den elf Jahren zwischen der Uraufführung des Musicals (1968) und der des Films (1979) alles besser gewesen wäre - aber die Freiräume in der Mainstreamkultur müssen doch gewaltig gewesen sein. Ein verfilmtes Anti-Kriegs-Musical, das das LSD-Schlucken so uneingeschränkt feiert wie "Hair", ist heute doch einigermaßen schwer vorstellbar.

An Krieg herrscht dabei heute kein Mangel. Auch die Frage, wer eigentlich für wen kämpft, stellt sich in den USA heute mit ähnlicher Dringlichkeit wie damals. Und die Klassenwidersprüche spitzen sich ja eh täglich zu. Aber wie gründlich die alte Idee von Gegenkultur, von "Turn on, Tune in, Drop out" sich erledigt hat, merkt man spätestens am Schluss des Films, wenn der Hippieheld Berger sich seine Haare abschneidet und eine Uniform anzieht. Endlich zieht er diese grässlichen Klamotten aus, denkt man sich, und wie hübsch der Schauspieler Treat Williams in einer gut geschnittenen Uniformjacke aussieht. In der coolen Kälte der Nischenkulturen sind all diese Klamotten nur noch Kleidungsstücke, aber keine Zeichen mehr, die Freund/Feind-Zugehörigkeiten signalisieren könnten.

Deshalb ist es wahrscheinlich auch so schwierig, sich vorzustellen, wie eine ähnlich radikale Entsprechung von "Hair" heute wohl aussehen würde. Eine Gruppe fortwährend Ecstasy-Pillen schluckender Hiphopper, die versuchen, um ihren Irakkriegseinsatz herumzukommen? Rave-Mädchen, die glauben, dass die fetten Jahre jetzt vorbei sind? Es geht nicht auf. Die heutigen Subkulturen leben in keiner großen Erzählung einer kategorial anderen Gesellschaft mehr. Was ja auch seine Vorteile hat: die Entscheidung, sich die Haare wachsen zu lassen oder nicht, sollte doch besser von der Frisur handeln und nicht von Leben und Tod.

Tatsächlich gibt es das Gegenstück zu "Hair" ohnehin längst. Es ist die berühmte Fernsehwerbung mit dem Wagenburgpunk, dessen Tochter einen Bausparvertrag haben möchte. "Hair" geht davon aus, dass in jedem Spießer ein Freak steckt, heute glaubt man, jeder Freak sei eigentlich ein Spießer.

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