■ H.G. Hollein: Interaktiv
Die Frau, mit der ich lebe, ist kulturbeflissen. Da muß man ihr schon mal was bieten. Also führte ich sie am vergangenen Wochenende in ein Musical. Die Karten hatte ich billiger bekommen, aber das mußte die Gefährtin ja nicht wissen. Daß es im Zuschauerraum statt Sitzreihen Tische gab, fand die Gefährtin gut, vor allem, weil auf den Tischen Aschenbecher standen. Als Beamtentochter konnte sie allerdings nicht umhin, gewisse feuerpolizeiliche Bedenken zu äußern. Dagegen, daß es während der Vorstellung reichlich zu essen und zu trinken gab, hatte die Gefährtin nichts einzuwenden. Skeptisch reagierte sie hingegen auf den Hinweis unseres Platzanweisers, es handele sich um ein „interaktives Spektakel“. Was das hieß, zeigte sich bei der ersten Musiknummer. Offenbar waren alle außer uns schon mindestens fünfzehnmal in der Vorstellung gewesen und konnten Lied für Lied mitsingen. Das taten sie dann auch. Und zwar im Stehen, was die Gefährtin in einen nicht unbeträchtlichen Wahrnehmungsnachteil versetzte. Sie ist nun mal nicht allzu groß. Daß unser schon etwas in die Jahre gekommener Tischnachbar seine Umgebung mit einem Luftgitarrensolo unterhielt, nahm die Gefährtin – wenn auch mit Anzeichen leichter Irritation – noch hin. Weniger gnädig reagierte die Gefährtin auf das Bedürfnis seiner Gattin, die jede Dialogpointe schon im Vorweg erklären zu müssen glaubte. Nach zwei weiteren Bieren lockerte die Gefährtin dann aber mächtig auf und wippte schon mal rhythmisch mit. Der Verlockung der sorgsam ausgelegten Wunderkerzen widerstand sie allerdings eisern. Wenn auch nicht endgültig. „Die nehmen wir nämlich schön mit“, beschied mich die Gefährtin nach dem Schlußapplaus und steuerte unsicheren, aber zufriedenen Schrittes ins Foyer an die Bar.
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