■ Gummizelle Pariser Platz: Pappschachteln
Gut ein Jahr nach dem Pappschloß-Streit wird Berlin erneut vom Wilhelm-von-Boddien-Fieber geschüttelt. Nach dem Vorbild des Schloßfans rief gestern der Berliner FDP-Abgeordnete Wolfgang Mleczkowski nach der Gummizelle rund um den Pariser Platz. Rechts und links des Brandenburger Tores sollen Fassaden-Attrappen der zerstörten Altbauten sowie der geplanten Neubauten aufgestellt werden. Im Vergleich könnten die Berliner Bürger dann entscheiden, wohin die bauliche Reise geht. Die „Zwitterarchitektur“ eines Josef Paul Kleihues könne dort nicht das letzte Wort sein. Das Lehrstück mit den Fassaden-Attrappen werde einen heilsamen Schock bei Architekten hinterlassen, hofft der FDP-Mann.
Und Mleczkowski denkt weiter: Unter dem Motto „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ soll die Diskussion stadtumspannend anhand von Eins-zu-eins-Modellen geführt werden. Nach dem Prinzip des „Schneller Wohnen“ könnten so ganze Quartiere als Pappschachteln entstehen. Statt Theoriegequatsche und Architekturgekritzel werden uns die Planer ihre baulichen Visionen als „Stadtsimulationen“ zum Ansehen, Anfassen – und Anpinkeln vorstellen: megairre Kautschuk- oder Pappfassaden, Cyber-Berlin im öffentlichen Raum.
Schon wird der Ruf nach kunstgerechter wie volksnaher Architekturkritik vom Stadtentwicklungssenator „restlos“ gutgeheißen. Und auch die Opposition scheint wegen der „Schockwirkung“ angetan. Denn was könnte alles geschaffen werden? Welche Chancen für Modellbauer und Künstler? Der Kollhoff-Entwurf am Alexanderplatz: zwölf 150 Meter hohe Styropor-Türme! Das Regierungsviertel als naturalistische Computersimulation, das Kanzleramt als aufblasbares Gummihaus, die Spreeinsel als Karton-Attrappe. Der Grenzstreifen als Teppich-Erlebnis-Land. Ein Superlativ jagte in Plastik den anderen. Bis gebaut wird, spielen wir Potemkin-Hauptstadt. Die Aufgaben wären grenzenlos. Rolf Lautenschläger
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