piwik no script img

Günter Blutkes postumer Fotoband „Berlin City Ost“Der Menschenseher

Berlin auf Blättern

von Jörg Sundermeier

Anfang des Jahres haben die Schramms ihren Gemüseladen aufgegeben, der seit über hundert Jahren unweit des Alexanderplatzes seine Kundinnen und Kunden bedient hat. „Schramms, übrigens, wurden nicht vertrieben“, schreibt Günter Blutke, sie seien „zu alt fürs frühe Aufstehen und die schwere Arbeit“ gewesen. „In ihrem Gemüseladen gibt es heute exquisite Schuhe für die Nachbarschaft.“

Die Szenerie, die der Fotograf hier beschreibt, soll nicht lauthals die Gentrifizierung Mittes beklagen, diese ist bekannt. Blutke, der als Kind in Mitte einen der heftigsten Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs überlebte und der seit den Siebzigern dort wohnte, will über die Veränderungen erzählen, die er miterlebte, die er festhielt.

In seinem Bildband „Berlin City Ost“, der soeben erschienen ist, zeigt er das Alltagsleben der Ostberlinerinnen und Ostberliner – Angler an der Spree, frisch gepflanzte Bäume vor dem Roten Rathaus, eine Oldtimerrallye, die Weltzeituhr, junge Pioniere, Lehrlinge, Bauarbeiter.

Blutke will zwei Aspekte des DDR-Alltags ausleuchten: einmal die Moderne, die sich etwa in der kunstvoll gestalteten Fassade des Kaufhauses auf dem Alex widerspiegelte, in den eleganten Geschäftshäusern, deretwegen auch die letzten Gründerzeitblöcke, die den Krieg halbwegs unbeschadet überstanden hatten, abgerissen wurden, das Interhotel, die modernen Verwaltungsbauten – und der Fernsehturm drängt sich selbstverständlich immer ins Bild.

Blutke erlebte, das sieht man seinen Schwarz-Weiß-Bildern an, diese Umgestaltung des Zentrums von Ostberlin als einen Befreiungsakt, er zeigt die Gebäude in grellem Licht, als Prachtbauten, er lässt es bei Regen aus ihnen herausleuchten, hier war die DDR in Ordnung. Dabei war der Fotograf kein Propagandist der SED, er zeigt sich in seinem Nachwort glücklich darüber, dass das Regime gestürzt wurde, doch als guter Linker hätte er gern eine Alternative zur Eingemeindung seines Landes in die BRD gehabt. Er sympathisierte 1989 mit jenen Anarchisten, die fröhlich „Keine Macht für niemand“ forderten. Doch hat Blutke trotz seines politischen Bewusstseins die Politik in diesem Band außen vorgelassen. Denn neben der DDR-Moderne geht es ihm vor allem darum, die Menschen zu zeigen, Kinder, Liebespaare, Nonnen oder Matrosen am Neptunbrunnen, Hobbyfilmer vorm Fernsehturm, Besucher des Pergamonmuseums, Wartende auf dem S-Bahnhof-Bahnsteig.

Dabei zeigt er etwa – auf dem Bahnsteigbild – ein Paar: Er, die Lederjacke lässig über die Schulter geworfen, lehnt fast ein wenig zu cool am Treppengeländer, sie, mit dezenter Eleganz gekleidet, lässt die Handtasche baumeln und schaut mit einer gewissen Zärtlichkeit an ihm vorbei – hin zu einem Ereignis, das abseits des Bildausschnittes statthat. Sieht sie eine einfahrende S-Bahn? Flattert eine Bahnhofstaube? Oder erblickt jemanden, dem ihre Zärtlichkeit gerade gilt? Blutke hat das Paar in der Bildmitte platziert, um sie herum der Bahnhof mit seinem Menschengewusel, der Blick in den oberen Bildteil führt aus der Bahnhofshalle heraus, hinten sieht man schemenhaft das Alexanderhaus von Peter Behrens.

Westauto, pfft

Zwei andere Bilder zeigen einen Unfall, ein Opel Kapitän, ein Westauto also, hat auf der Straße Unter den Linden einen Verkehrsunfall erlitten. Männer sind herbeigeeilt, um die eingedrückte Kühlerhaube fachmännisch zu bestaunen. Ihre Ungezwungenheit demonstrieren sie dadurch, dass sie ihre Hände in den Hosentaschen behalten, während sie das Autowrack betrachten, ein Westauto, pfft, soll ihre Haltung ausdrücken. Zugleich ist ihre Aufregung zu spüren.

„Berlin City Ost“ ist ein Bildband, der en passant von einem großen Menschenseher erzählt. Blutke, der sich klein macht, scheinbar nur Anekdoten feilbietet und Alltägliches fotografiert hat, wusste sehr genau, wie man den Menschen auf die Pelle rückt, wie man sie sichtbar macht. Dieser Bildband ist dazu angetan, einen Meister seines Fachs wiederzuentdecken. Leider ist es Blutke nicht mehr vergönnt, seinen späten Ruhm zu ernten. Er verstarb kurz vor der Drucklegung des Buchs. Es ist somit sein Vermächtnis.

Günter Blutke: „Berlin City Ost“. Bebra Verlag, Berlin 2016, 124 Seiten, 22 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen