Guantánamo-Häftlinge: Umzug nach Illinois
Das Gefangenenlager in Guantánamo Bay soll geschlossen werden. Als Ersatz wurde nun ein anderes Gefängnis gekauft – und das auf heiligem amerikanischem Boden.
Nun soll sich also Illinois opfern, der Heimatstaat Barack Obamas. Dort sollen "einige Dutzend Häftlinge" – vielleicht 30, vielleicht aber auch 70 – aus Guantánamo in einem neuen Super-Maximum-Sicherheitsgefängnis untergebracht werden, und zwar auf unbestimmte Zeit. Obama ordnete am Dienstag an, dass das derzeit praktisch leer stehende Thomson Correctional Center von der US-Bundesregierung gekauft und zu einer waffenklirrenden Festung ausgebaut wird.
Damit rückt die Schließung des Gefangenenlagers in Guantánamo Bay einen kleinen Schritt näher. Es sollte bis zum 20. Januar 2010 dichtmachen, hatte Obama als eine seiner ersten Amtshandlungen im Weißen Haus angeordnet. Es gehörte zu den eher bitteren Lektionen des Hoffnungsträgers, dass eine Maßnahme, die international höchst populär war, im eigenen Land auf hartnäckigen und völlig irrationalen Widerstand stieß, außerdem war dieser Schritt in den USA durch zahlreiche Gerichtsurteile zugunsten der Häftlinge unvermeidlich geworden.
Dennoch: Der Senat, in dem Obamas Demokratische Partei eine breite Mehrheit hat, legte sich im Mai quer und verweigerte mit 90 zu 6 Stimmen die Geldmittel, um Gefangene aus Guantánamo in die USA zu verlegen. Später gestatteten die Senatoren zumindest, dass die Häftlinge für ihre Prozesse den heiligen Boden der USA betreten konnten. Das rief die Gouverneure und Lokalpolitiker in Staaten wie Kansas, Michigan und South Carolina auf den Plan: Bloß nicht bei uns, solch gefährliche Leute können wir unseren Bürgern nicht zumuten!
Es ist eine eigenartige Haltung, die den Beobachter in der Ferne verwundert. Denn eigentlich haben Bürger und Politiker in den USA ein recht inniges Verhältnis zu ihrer Strafjustiz: Sie ist ein Ventil für die Spannungen, die in einer so stark sozial zerklüfteten Gesellschaft zwangsläufig entstehen.
Über zwei Millionen Menschen sitzen in den USA hinter Gittern. Man kümmert sich um das Schicksal dieser sozialen Verlierer, indem man sie wegsperrt. Die Strafjustiz schafft auch Arbeitsplätze, vielerorts, wo die Fabriken dichtmachten, baute man Gefängnisse, damit es wenigstens wieder Jobs für Wachleute, Wäschereien und Bäcker gab. Auch Thomson war so ein Knast, aber heute leben dort nur 200 Insassen. Private Firmen versprachen sich Gewinne, wenn sie Haftanstalten errichten und ihre Dienste den Staaten anbieten.
Zwischen den Bundesstaaten entstand ein regelrechter Wettbewerb um die Häftlinge. Außerdem sind die Insassen extrem billige Arbeitskräfte. Ein großer Teil der Helme, kugelsicheren Westen und Feldflaschen, die die US-Soldaten in Afghanistan verwenden, werden in Gefängnissen in ihrer Heimat hergestellt - unter Bedingungen, die Kritiker als moderne Sklaverei bezeichnen.
Das funktionierte alles ohne größere Schwierigkeiten, solange es Amokläufer, Mörder, Vergewaltiger und Drogenbosse waren, die in den Gefängnissen einsaßen. Wer aber aus Guantánamo kommt, gehört ganz offensichtlich in eine ganz andere Kategorie, scheint eine Art von Monster mit übernatürlichen Kräften zu sein: Der republikanische Senator John Cornyn aus Texas war "tief beunruhigt" von Obamas Ankündigung: "Dieser Schritt wird unsere Bürger in unnötige Gefahr bringen, und das ist nicht zu rechtfertigen und inakzeptabel".
Um wen geht es bei diesen "wenigen Dutzend" Häftlingen wirklich? Nicht um die prominenten Drahtzieher des Al-Qaida-Terrors wie Khalid Scheikh Muhammad, der mit vier weiteren Angeklagten in New York vor ein Zivilgericht gestellt werden soll. 40 weiteren der gegenwärtig noch 210 Guantánamo-Häftlinge soll ebenfalls der Prozess gemacht werden.
Bis zu 100 könnten in Drittländer überstellt werden, viele davon sind offiziell von Terrorvorwürfen entlastet – auch wenn Wolfgang Schäuble das für die Hand voll Uiguren, die gern nach München übergesiedelt wären, anzweifelte. Es bleiben bis zu 70 Häftlinge, denen nicht der Prozess gemacht werden kann, weil die Beweise gegen sie durch Folter oder andere Methoden erbracht wurden, die die CIA lieber nicht vor einem Gericht darlegen will. Oder ihnen wird der nie näher begründete Vorwurf gemacht, sie seien zu gefährlich, um sie freizulassen.
"Obama hat lediglich die Postleitzahl von Guantánamo verändert", sagt Tom Parker von Amnesty International in den USA. Gegen keinen der Insassen, die nach Thomson verlegt werden sollen, gebe es bisher eine Anklage. "In sieben Jahren ist es der US-Regierung, dem FBI oder der CIA nicht gelungen, einen gerichtsverwertbaren Beweis für ihre Schuld zu erbringen".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles