Grundsatzurteil zur Abschiebe-Haft: Kein Knast für Illegale
Papierlose dürfen nicht mit Strafhaft belegt werden, wenn sie einer Aufforderung zur Ausreise nicht nachkommen, sagt der Europäische Gerichtshof.
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HAMBURG taz | Wenn der Hamburger Anwalt Ünal Zeran am Mittwoch vor dem Amtsgericht verhandelt, dürfte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) dabei von weit reichender Bedeutung sein. Denn Zerans Mandant sitzt zurzeit in Untersuchungshaft, weil ihm ein Verstoß gegen das Ausländergesetz vorgeworfen wird. Der Mann sei der Aufforderung zur Ausreise nicht gefolgt. Haftstrafen gegen illegale Einwanderer wegen Nichtbefolgung einer Abschiebungsanordnung verstoßen jedoch gegen EU-Recht, das hat der EuGH aktuell entschieden.
Dem Urteil der Luxemburger Richter liegt ein Verfahren in Italien zugrunde: Ein illegaler Einwanderer, der 2004 heimlich eingereist war, war einer Aufforderung nicht nachgekommen, Italien binnen fünf Tagen zu verlassen, sondern hatte sich weiterhin illegal im Land aufgehalten. Deshalb verurteilte ihn ein italienisches Strafgericht zu einem Jahr Gefängnis.
Das italienische Berufungsgericht hatte Zweifel an der Haftstrafe und rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an. Gleichzeitig beantragte das Gericht beim EuGH wegen der andauernden Haft des Angeklagten, den Komplex als Eilverfahren zu behandeln.
Der EuGH kommt nun zu dem Schluss, dass entsprechende nationale Bestimmungen im Strafrecht gegen die EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG verstoßen, wenn eine Freiheitsstrafe nur deswegen verhängt wird, weil sich jemand einer Abschiebeanordnung widersetzt und sich weiterhin illegal in einem Land aufhält.
Die EU-Richtlinie schreibe genau vor, welche Verfahren zur Rückführung illegaler Ausländer anzuwenden seien. Die EU-Mitgliedstaaten dürften daher nicht von den Normen und Verfahren durch Anwendung strengerer Normen abweichen, sagt der EuGH. Denn die Richtlinie sei geschaffen worden, um eine wirksame Rückkehr- und Rücknahmepolitik unter Achtung der Grundrechte der Betroffenen zu realisieren.
Dabei habe die freiwillige Ausreise Priorität. "Nur wenn jemand seine Ausweisung vorsätzlich verzögert oder sabotiert", erläutert Zeran, sei auch Abschiebehaft möglich. Diese müsse jedoch laut EuGH so kurz wie möglich sein.
Auf Zerans aktuellen Fall hatte das EuGH-Urteil bereits Auswirkungen. Der Amtsrichter in Altona setzte das Verfahren gegen Zerans Mandanten vorige Woche kurzerhand aus - ohne jedoch den Haftbefehl aufzuheben - um sich mit der neuen EuGH-Rechtssprechung vertraut zu machen. Der Anwalt wollte prüfen, welche Konsequenzen das Urteil auf deutsches Recht und die Abschiebehaft hat. Der Bundesgerichtshof habe in jüngster Zeit mehrere Hamburger Entscheidungen zur Abschiebehaft kassiert, berichtet Zeran.
Im vorigen Frühjahr war in Hamburg eine Debatte um Abschiebehaft entbrannt, nachdem es zu zwei Suiziden gekommen war. Am 8. März erhängte sich der Georgier David M. im Untersuchungsgefängnis, am 16. April die indonesische Prostituierte Yeni P. im Frauenknast Hahnöfersand. Yeni P. hatte zuvor zwei Monate in Untersuchungshaft wegen Verstoß gegen das Ausländergesetz gesessen, da sie drei Jahre lang illegal als Sexarbeiterin in einem Bordell gearbeitet hatte.
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