■ Gregor Gysi kündigt seinen Rücktritt an: Wer zu spät kommt
Das ist ja schon was. Wenigstens die Selbstironie ist Gregor Gysi auch nach dreijähriger Tätigkeit an der Spitze der ehemaligen Staatspartei nicht gänzlich abhandengekommen. Als Produkt reiflicher Überlegungen stellt er seine nicht mehr ganz überraschende Rücktrittsankündigung dar und suggeriert so dem staunenden Publikum, es bedürfe wirklich noch tiefschürfender Reflexion, um der ganzen Zumutung des Amtes innezuwerden, das Gysi jetzt endlich loswerden will. Wer zu spät kommt. Hätte er im Dezember89 der Versuchung widerstanden, für die niedergehende SED das neue, unbelastete Gesicht zu mimen, man hätte Anlaß gehabt, den damals noch sprühenden Jung-Politiker mit intellektuellem Anstrich zu beglückwünschen. Heute, drei Jahre nach Gysis persönlich wie politisch folgenreicher Entscheidung, verkommen alle Glückwünsche zum bloßen Zynismus.
Ein Politiker von Gysis – anfänglichem – Format jedenfalls hätte erkennen müssen, daß seine Führungsrolle in erster Linie der verzweifelten Neuinszenierung einer Partei diente, deren erzwungene Veränderung nicht auf reformerischem Einfluß, sondern ausschließlich auf dem rapiden Machtverfall der einstigen Staatspartei beruhte. Was sich an altem Denken in den Reihen der PDS hartnäckig halten konnte, das hielt sich, nicht trotz, sondern wegen Gysi. Er allein war es, der zeitweilig der linken Öffentlichkeit vorgaukeln konnte, unter der Fassade seiner „reformierten“ sozialistischen Partei fände etwas anderes statt, als die in der Tat mühsame Transformation realsozialistischer Mentalitäten und Millionen in die neuen Verhältnisse. Allein Gysis Aufopferungswillen, seinen darstellerischen Künsten und seinem Anwaltsprofil hat es die PDS zu verdanken, daß sie sich die verquere Rolle des Interessenvertreters der ehemaligen DDR-Bürger anmaßen konnte. An der Spitze der SED, dann PDS, hat Gysi vorexerziert, was seither die prototypische Sehnsucht einer verunsicherten DDR- Gesellschaft abgibt: den allemal schmerzhaften Übergang ohne erinnernde Aufarbeitung.
Wer Gysi im Dezember89 erlebte, weiß, für dieses Vor-Bild hätte sich der quirlig-offene Anwalt zu schade sein müssen. Warum er sich dafür hergab, bleibt offen. Ohne Schaden war das kaum zu überstehen. Zu Beginn des Experimentes zehrte die PDS ausschließlich von ihrem neuen Stern; heute steht der verblichene Politiker-Star synonym für das gescheiterte Projekt. Fürwahr eine Strafe. Matthias Geis
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