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Golfprofi Marcel SiemDer spätreife Punk

Marcel Siem ist einer der emotionalsten Golfprofis. Bei den am Donnerstag beginnenden British Open will sich der Überraschungssieger von Paris beweisen.

Marcel Siem bejubelt oder beschimpft sich gerne lauthals selbst und spricht den Ball noch im Flug an: „Gooooo, Baby“. Bild: dpa

Golf, diese perfide Mischung aus Lockerheit, Dynamik und Hochkonzentration, kann die hektischen Aufgeregtheiten unserer Zeit wunderbar bloßstellen. Da sind alle seit Jahren auf Martin Kaymer fixiert, den deutschen Star der Zunft, und wer gewinnt vor zehn Tagen die Open de France bei Paris: Marcel Siem aus Ratingen. Siem?

Das ist doch der wilde Kerl mit den kecken Sprüchen und dem Pferdeschwanz, der regelmäßig groß aufspielt, dessen Nerven aber im letzten Moment mehr flattern als die Fahne bei Windstärke 9. Martin Kaymer wurde in Paris Letzter. Her also mit dem Schlagzeilen: Wachablösung im deutschen Golf! Neuer Topstar Siem, Kaymer – kannste vergessen!

Nur fünf Tage später, bei den Scottish Open, der Generalprobe für die British Open an diesem Wochenende, lag Kaymer freitags zeitweilig an der Spitze, während Siem erst am letzten Loch ein Birdie gelang, das ihn soeben vor dem vorzeitigen Ausscheiden bewahrte. Am Ende landeten beide auf Platz 29.

Das Beständige am Golf ist seine Unbeständigkeit. Kaum wer, der ein Turnier nicht gewinnen könnte, so auch ab diesem Donnerstag bei „The Open“ im nordenglischen Lytham, dem 3. Major der Saison. Im Vorjahr siegte völlig überraschend der Nordire Darren Clarke, der längst den Zenit seiner Leistung überschritten zu haben schien.

Wie Becker in Wimbeldon 1985

Oder 2010: Erst am letzten Grün verdaddelte sich Altmeister Tom Watson, der sonst mit seinen 60 Jahren so sensationell gewonnen hätte wie Boris Becker in Wimbledon 1985. Und jetzt: Siem? Vorne sein kann nur, wer Desasterschläge neben die Fairways vermeidet.

Lytham gilt dieses Jahr wegen seiner extradichten, nassen und besonders hohen Roughs als „brutal“, so Titelverteidiger Clarke am Montag. Da würden Bälle „mit Sicherheit verloren gehen, trotz der Zuschauer daneben“.

27 Top-Ten-Platzierungen hatte Marcel Siem in den zehn Jahren seiner Profikarriere geschafft, gewinnen konnte er nur einmal, 2004 in Südafrika. Danach kamen 225 Turniere, bei denen er im entscheidenden Moment blockierte, verkrampfte, das richtige Maß an Konzentration, Gelassenheit und Energie nicht fand – und daneben schlug.

Noch im Juni verpasste er auf den letzten beiden Löchern in Pulheim bei Köln den Sieg: „Ich bin total enttäuscht“, klagte er nachher. „Unfassbar, was ich ab und zu für einen Mist baue, wie viele Turniersiege ich schon weggeschmissen habe.“ Bei Siem galt immer das Lustprinzip. Lieber grandios scheitern als langweilig oben mitschwimmen. Siem, der Golf-Punk, der Berufsjugendliche.

Wutausbrüche und Triumphposen

Nur Risiko ist geil. Und das geht halt schon mal daneben. Der 32-Jährige hat mit Günther Kessler den gleichen Trainer wie Perfektionist Martin Kaymer. Ansonsten unterscheidet die beiden fast alles. Siem ist extrovertiert, mit Wutausbrüchen und Triumphposen, auch mal mit einem falschen Wort zur richtigen Zeit. Das finden nicht alle im kontrollierten Etikettensport angemessen.

Siem lächelt darüber: „Emotionen sind gut, auch im Golf.“ Ab und zu, sagt er, „muss ich auf den Putz hauen und den Frust rauslassen. Das hilft mir, schlechte Schläge zu verarbeiten.“ Also bejubelt oder beschimpft er lauthals sich selbst und spricht den Ball noch im Flug an: „Gooooo, Baby“.

In seiner Jugend galt Siem als besonders aufbrausender Typ, der schon mal einen Schläger aus Wut zerbrochen oder im See versenkt hat. „Damals kam ich mir besonders cool vor.“ Und Siem ist einer, der gern feiert. Auch mit anderen: Bei Martin Kaymers erstem Turniersieg 2008 in Dubai ist er mit einer Schampusflasche aufs Grün des 18. Lochs gerannt. Fanden die abstinenten Scheichs nicht so witzig.

Marcel Siem, der jetzt mit Platz 58 seinen besten Weltranglistenplatz überhaupt erreicht hat, überraschte nach Paris mit dem Satz: „Hart arbeiten macht mir jetzt auch Spaß.“ Und gleich geht die Frage um, ob er bei den British Open realistische Siegchancen hat. Die Zeit der Dominatoren ist vorbei, die Weltspitze ist eng zusammengerückt. Der Vorsprung des Ersten, Luke Donald, schmilzt.

Wettbüro-Favorit

Auch Rory McIlroy schwächelt. Tiger Woods, wie immer Wettbüro-Favorit, ist nach seinem Tiefpunkt mit Ranglistenplatz 50 im Spätherbst wieder in den Top 5, auch seine Ergebnisse oszillierten zuletzt zwischen Platz 1 und 40.

Er sei „ein Mensch, bei dem ein paar Dinge etwas später eingesetzt haben“, sagt Siem. 2011 wurde er erstmals Vater. „Dank meiner Tochter bin ich viel ruhiger geworden“, meinte er stolz in Paris. Die Mutter nennt er übrigens „meine Verlobte“. Nicht eben das Vokabular eines Punks. Dass die Tochter Victoria heißt, passt schon besser.

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