■ Goldene Palme für Emir Kusturica: Sarajevo wird sich bedanken
Selten war die politische Großwetterlage eines Filmfestivals schon während der Projektionen so genau zu erspüren wie dieses Jahr in Cannes. Die jetzt getroffenen Entscheidungen – Goldene Palme für Emir Kusturicas „Underground“ und der große Preis der Jury für „Der Blick des Odysseus“ von Theo Angelopoulos – decken sich penibel mit den Reaktionen während der Vorführungen und danach in der französischen Presse. Beide waren mit tosendem Applaus und publizistischen Paukenschlägen bedacht worden. Die Jury liegt mit ihrer Entscheidung also ganz auf Linie. Welcher Linie? Beide Filme sind großangelegte europäische Epen, beide sind, mit Verlaub, „Herrenfilme“, und beide enden in Ex-Jugoslawien, mit demselben Gestus, mit dem der französische Fernseh- Philosoph Bernard-Henri Lévy unlängst ausrief: „Europa endet in Sarajevo.“
Irgendwie erschütternd ist nur, daß der Ort dabei nur mehr bloßes Zeichen ist, wie der Krieg dargestellt wird, und zu welchem Zweck, ist schon völlig irrelevant. Kusturica, der sich hartnäckig als Jugoslawe bezeichnet, präsentiert die letzten fünfzig Jahre seines Heimatlandes als misanthrope Jahrmarktsgroteske. Die Bomben des Zweiten Weltkriegs treffen zuerst einmal einen Zoo; während die Tiere leiden, versuchen die Menschen weiterhin tumb, Liebe zu machen – vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Die Deutschen reiben sich nach wie vor die Hände: Damals haben sie die Bomben selbst geworfen, heute lassen sie werfen. Mit dem Haß auf die Deutschen wird das Modell westliche Demokratie gleich mit als grausame Gaudi auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Das dreistündige Geballere hat nur einen Effekt – ein tiefes Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung: Bitte aufräumen! Aus Kusturicas mehr oder weniger sympathischen Schlitzohren von heute sieht man die Schirinowskis von morgen hervorgrinsen.
Kann man Kusturica noch die Schwierigkeiten des Exils zugute halten – das Anliegen des griechischen Regisseurs Angelopoulos leuchtet überhaupt nicht mehr ein: Auf der Suche nach Aufnahmen griechischer Filmpioniere durchstreift Harvey Keitel (!) den Balkan. Erschreckende Bilder aus Sarajevo begleiten die Suggestion, daß der Verlust der Filmrollen (auf denen sich frühe ethnographische Aufzeichnungen von Muslimen, Kroaten oder Serben befinden) irgendwie mit dem Krieg zusammenhängt. In Umkehrung des Goebbels-Spruchs „Wenn ich das Wort Kultur höre, greife ich nach meiner Waffe“ wird hier drei Stunden lang das eigene Kunstwollen mit bedrängten Kindergesichtern aus Sarajevo aufgetrimmt.
Daß diese beiden Attitüden honoriert werden, kann nichts mit Filmästhetik zu tun haben. Nein, dieses Jahr hat sich ein Kalkül durchgesetzt: Der europäische Film ist einer mit einem kunstfertigen Anliegen; welches das genau ist, war da schon nicht mehr so wichtig. Sarajevo wird's ihnen danken. Mariam Niroumand
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