Göttinger Händel-Festspiele: Das Fantom der Oper
Er war kein Sohn der Stadt, trotzdem widmet man sich in Göttingen jedes Jahr dem Komponisten Georg Friedrich Händel. Umso interessanter macht das der thematische Fokus: der Orient!
BREMEN taz | Georg Friedrich Händel (1685–1759) lebt seit 1920 in Göttingen. Natürlich nicht wirklich, er ist in Westminster begraben. Aber Göttingen hat ihn als Opernkomponisten wiederbelebt, und wieso sich die Stadt jedes Jahr im Frühling zwölf Tage lang mit aller Begeisterung Händel hingibt – das ist im Grunde schon eine Geschichte für sich, verwickelt wie ein persisches Märchen. Was passt, weil Orient dieses Jahr Thema des Festivals ist.
Es ist eine Begegnung im Imaginären: Händel war nie selbst im Morgenland, auch Göttingen hat ihn nie empfangen. Die Festspiele sind Resultat einer Häufung von Zufällen: Damit es sie gibt, musste der Kunsthistoriker Oskar Hagen eine dänische Opernsängerin heiraten, er musste als Zweitfach in Berlin beim Hänsel-und-Gretel-Schöpfer Engelbert Humperdinck Komposition studieren und noch während der Dissertation weiterhin musikhistorische Vorlesungen besuchen, in Halle.
Dort erfuhr Hagen überhaupt erst, dass Händel Opern geschrieben hatte – und fand sie toll. Erst danach, inzwischen Privatdozent an der Uni, gelang es ihm, 1920 erstmals seit über 150 Jahren, eine Händel-Oper zu inszenieren, „Rodelinda“, mit seiner Frau Thyra in der Titelrolle. Und mit einem Schlusschor, der, statt wie das Original bloß die Tugend zu preisen, in Hagens Verdeutschung einen „Friedenstag“ bejubelt, froh grüßend „aus blütenschwerem Haag“. Ein bemerkenswert weltoffenes Finale, so kurz nach dem Ersten Weltkrieg.
Oper, weltoffen – obwohl Hagens Händel stark nach Wagner klang, wirkt die Festival-Idee wie ein Gegenentwurf zu Bayreuth. Während man sich klanglich mittlerweile auf ein historisch-korrekteres Ideal hin orientiert – musikalischer Leiter ist Alte-Musik-Fachmann Laurence Cummings – und auch mit renommierten SolistInnen wirbt, hat man diese Gründerprinzipien in Göttingen doch bewahrt.
Es gibt Veranstaltungen in Moschee und Synagoge, interdisziplinär arbeitet man natürlich auch: „Wir zeichnen mit dem Projekt Arabische Reise die erste wissenschaftliche Orient-Expedition nach“, sagt Festival-Intendant Tobias Wolff. Uni, Deutsches Theater und die Künstlergruppe „red park“ wirken dabei zusammen. Zugleich habe sich die Themensetzung „im Rahmen einer langfristigen Strategie“ ergeben: Deren Zielpunkt ist 2020, also 100 Jahre Festival. Bis dahin „haben wir all diejenigen Werke eingeplant, die noch gar nicht im Rahmen der Händel-Festspiele aufgeführt wurden“, so Wolff – oder doch „seit langer Zeit nicht“.
Gemeinsam mit Cummings habe er also die einschlägigen Libretti durchforstet, darunter das Oratorium „Joseph and his brethren“ und die Oper „Siroe, Re di Persia“, während sich im Fernsehen die Berichte über den Arabischen Frühling überschlugen. „Dieser Kontrast zwischen aktuellen Bildern und dem doch etwas verklärten Orient-Bild Händels hat uns interessiert.“
Ehrlich gesagt: Das Thema gab’s schon mal. Aber das ist nicht schlimm: Das Orient-Konzept der Gegenwart hat sich massiv geändert, seit sich vor 15 Jahren das Händel-Festival letztmals dessen Morgenländern gewidmet hatte. Beispielsweise hatten damals gerade erst Shimon Perez, Yitzhak Rabin und Yassir Arafat gemeinsam den Friedensnobelpreis entgegengenommen, im Iran war aus Versehen ein Reformer Präsident geworden und die Twin Towers standen noch. Was seitdem geschah, muss Auswirkungen auch darauf haben, wie die mentalen Landschaften der Vergangenheit wahrgenommen werden.
Auch zu Händels Zeit sind die Orient-Vorstellungen in einem gravierenden Wandel begriffen. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts hatte ja die Türkenangst alles überdeckt – nur zwei Jahre vor Händels Geburt war die Belagerung Wiens zu Ende gegangen. Während Händels erste Opern – „Almira“ wird 1705 in Hamburg uraufgeführt – noch in dieser Tradition stehen, reaktiviert man allmählich doch auch alte Bilder des Ostens als Sehnsuchtsort und Pilgerziel. Und es treten völlig neue Färbungen auf: Ab 1704 veröffentlicht Antoine Galland seine Übersetzung der Erzählungen aus 1001 Nächten ins Französische.
„Das ist das Schlüsselwerk, das damals in die europäische Literatur eingespeist wird“, sagt die Orientalistin Claudia Ott. Die Autorin der jüngsten deutschen Übersetzung lehrt zurzeit an der Göttinger Uni, bei den Festspielen ist sie mit einer szenischen Lesung präsent (14. Mai), verbunden mit einem Vortrag über die – mögliche – Beziehung Händels zu den Erzählungen Schahrasads: „Es gibt kein Libretto, das sich direkt aus den 1001 Nächten speist“, stellt sie klar. Aber: Um das Buch, das in etlichen Zweitübersetzungen den ganzen Kontinent unterhält, wird der Komponist kaum herumgekommen sein. Händels wachsende Zuneigung zum Orient als Folge der Lektüre zu deuten, „würde wunderbar passen“, sagt Ott. „Man möchte es wenigstens glauben.“
Zugleich bildet das westliche Klangdenken den größtmöglichen Gegensatz zur orientalischen Musik: Setzt diese auf Polyphonie, Melodik und mündliche Unterweisung, also Weitergabe von Praxis, wirkt in Europa die in Traktaten ausgearbeitete Harmonielehre traditionsstiftend, die homophone Sätze in wohltemperierter Stimmung produziert: Gerade mit Händel scheint sich diese Linie zu radikalisieren.
Und es ist kein Zufall, dass dies gerade in der Oper – und mit orientalischen Sujets – geschieht: Diese Kunstform hatte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts – kurz nach den Türkenkriegen – auszubilden begonnen. Und ihre Vordenker schreiben ihr durchaus auch die Aufgabe eines Bollwerks gegen die Magie der Melodien zu, einer Waffe gegen die Polyphonie. So bleibt ein West-Ost-Konflikt tief in die Gattung eingeschrieben: Der Orient ist das Fantom der Oper, oder doch wenigstens sein bester Freund und Komplize. Ein Körper gewordener, räumlicher – also theatraler – Schrecken der Musik, der in ihren Katakomben haust, und den sie nicht einfach abstreifen kann.
Als vollkommenster Agent der Oper als Homophonie-Maschine hat es Händel umgekehrt nicht nötig, seine orientalischen Figuren hässlich alla turca, „auf die Türkische Art“, zu karikieren: Ihre Entschiedenheit macht Konfrontationen mit traditionellen Musiken des Ostens hoch attraktiv. In diesem Sinne eignet sich das Gamelan-Ensemble Baba Layar (11. Mai) etwas gewaltsam einige barocke Phrasen an, beweiskräftiger ist da wohl Özlem Buluts Konzert: Die Sopranistin aus dem Chor der Wiener Volksoper kontrastiert Händels Arien mit kurdischer Volksmusik (13. Mai).
Und auch die diesjährige Opernproduktion, deren Handlung aus einem vorislamischen, persischen Sagenkreis stammt, ist ein guter Beleg: Prinz Siroe gerät dabei in ein Spiel von Liebe, Verrat und Hass mit Prinzessin Elmira, der Tochter des Ex-Königs, den wiederum sein Vater beseitigt hatte. Musikalisch hat Händel dieses Drama mit Menschen bevölkert, denen man den Migrationshintergrund ebenso wenig anhört wie nun Regisseur Immo Karaman: Ja, es ist eine Geschichte der Aneignung, vielleicht sogar eine Kolonisierung des Stoffs – aber auch eine Verfremdung des Eigenen, eine neue Ausrichtung des Blicks auf den Schatz des Lebens, „tesor della vita“, wie der Chor singt: unendlicher Genuss, „delizia infinita“, F-Dur-Akkord – und Schluss.
Internationale Händel-Festspiele Göttingen: 9.–20. Mai;
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