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■ GlosseKampf der Kulturen

Schüler aller (Bundes-)Länder! Die Weihnachtsferien sind zu Ende. Nichts wird in den Schulen künftig so sein, wie es einmal war! Die Lehrer werden Euch nicht mehr mit Phrasen über die Segnungen der multikulturellen Gesellschaft belästigen. Wenn sie sich mit Euch unterhalten, werden dunkle Schatten über ihre Gesichter huschen. Die Stirn wird sich in beunruhigte, unschöne Falten legen. Denn: nachdenklich, verunsichert und mißtrauisch sind Eure Lehrer geworden.

Was ist passiert? Der Spiegel hat wenige Wochen vor Weihnachten mit einem alternden Professor gesprochen. Eindringlich warnte dieser vor einem Kampf verfeindeter Kulturen. Einem Kampf, der unseren Planeten schon bald in ein blutiges Inferno stürzen könnte.

Der Mann traf einen Nerv. Vor allem bei Lehrern. Denn diese ahnten bereits seit einiger Zeit: Der Klassenkampf, pardon!, der Kampf in den Schulklassen bedarf einer neuen Erklärung. Die alten Denkschablonen reichen nicht mehr. Neues ist gefragt. In Scharen stürmten sie deshalb die Buchläden, um sich zum Wiegenfest Christi gegenseitig mit den düsteren Visionen des alten Mannes zu beglücken. Binnen Tagen war die neue Bibel des Kulturpessimisten ausverkauft.

Zwischen den Jahren vertieften sich die gebildeten Stände in Samuel P. Huntingtons bedeutungsschwangere Abhandlung vom „Kampf der Kulturen“. Was für ein Lustgewinn in besinnlicher Zeit! Was für ein Kick! Endlich wieder eine apokalyptische Prophezeiung! Wurde aber auch höchste Zeit. Nachdem weder der Untergang des Kapitalismus noch der atomare Holocaust, noch das Waldsterben, ja nicht einmal die Klimakatastrophe so richtig hingehauen hatten, fiel der eine oder andere in eine tiefe Sinnkrise. Das ist nun vorbei. Huntington öffnete so manchem Lehrer die verquollenen Augen. Das Buch, eine Offenbarung. Kein Wunder, daß das zwischenmenschliche Klima in den Klassenzimmern angesichts der interkulturellen Schülerschaft rauher wird, brutaler und unversöhnlicher. Wie sollte es anders sein, wenn westliche, die slawisch-orthodoxe, die islamische und die konfuzianische Kulture so ganz ungefiltert aufeinanderprallen?

Der Verfall bürgerlicher Werte und Normen hat einen neuen Namen: Kulturkampf. Vergessen die alte Klage über das brutalisierende Fernsehprogramm, die Informationsflut und den Zerfall der Familie. Alles Nebenschauplätze angesichts der eigentlichen, weltumspannenden Konfrontation. Und wir Lehrer mitten im Getümmel! – Geil. Eberhard Seidel-Pielen

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