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Archiv-Artikel

Gimmicks, Mantras, Discokracher

George Harrison tat es, Ananda Shankar tat es, und die Agha-Schwestern taten es auch: Wie der Musik-transfer zwischen Indien und dem Wes-ten in Schwung kam

VON PAUL PAULUN

Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte George Harrison nicht 1965 eine Platte von Ravi Shankar in die Hände bekommen. Dessen Sitarspiel berührte den Beatle so sehr, dass er sich kurzerhand selbst ein solches Instrument kaufte und damit gleich ein Intro für das Stück „Norwegian Wood“ aufnahm, dem noch ein kleines Gimmick zu fehlen schien. Als Ravi Shankar kurz darauf für ein Konzert nach London kam, trafen sich die beiden und verstanden sich sogleich prächtig. Wenige Monate später reiste Harrison nach Indien, um sein Sitarspiel bei Ravi Shankar zu verbessern. Auf dem 1966 erschienenen Beatles-Album „Revolver“ begleiteten die süßlich-sphärischen Klänge des Instruments bereits ein ganzes Stück: „Love you to“. Spätestens da begann Indien im Westen populär zu werden.

Anfang 1968 steckten die Beatles in einer Phase der Neuorientierung. In London hatten sie einen Vortrag von Maharishi Mahesh Yogi gehört und beschlossen, in seinen Ashram am Fuß des Himalaja nach Rishikesh zu gehen. Die Welt der Meditation sollte ihnen etwas Abstand vom Leben als Popstars verschaffen und neue Horizonte eröffnen. George Harrison erhoffte sich von dieser Reise, ein für ihn geeignetes Mantra zu finden. Maharishi hatte es nicht, aber die einige hundert Kilometer entfernt residierende Sekte der Hare-Krishna-Bewegung schien genau das Richtige zu sein. Harrison schloss sich ihnen an und nahm im folgenden Jahr mit Anhängern des soeben in England gegründeten Radha-Krishna-Tempels das gleichförmige Mantra der Organisation auf eine Platte auf. Überraschenderweise war Harrison mit seiner Suche nicht allein: Das Stück schaffte es in die englischen Top 10.

Die Beatles bildeten allerdings nur die Speerspitze einer Invasion von tausenden Hippies und Drop-outs, die in Indien auf der Suche nach spirituellen Eindrücken unterwegs waren. Obwohl es in der indischen Gesellschaft einige religiös motivierte Aussteiger wie etwa Sadhus gibt, ging der Habitus der Hippies den meisten Indern zu weit. Sie reagierten mit Unverständnis auf diese bizarren Freaks, die einen Lebensstandard proklamierten, den die meisten dort hinter sich zu lassen wünschten. In der oberen Schicht kursierte sogar ein wenig Angst, dass sich Söhne und Töchter mit diesen verantwortungslosen, Drogen konsumierenden und die allgemeinen moralischen Werte negierenden Typen einlassen könnten.

Manche indische Künstler waren den Hippies jedoch durchaus gewogen. Ananda Shankar, Sohn eines Tänzerehepaares und Neffe Ravi Shankars, verbrachte einige Zeit seiner Kindheit auf Reisen mit den Eltern durch die USA und hegte schon früh den Wunsch, Elemente der beiden Kulturen zu verbinden. Er studierte fünf Jahre klassische indische Musik an der Universität von Benares und war gleichzeitig von Led Zeppelin, Janis Joplin und elektronischer Musik fasziniert.

In den Liner-Notes seiner ersten, 1970 erschienenen Platte „Ananda Shankar“ charakterisiert ihn eine gewisse Dorothy Brown in blühendster Hippieprosa: „Sein Name ist Ananda. Er grüßt die älteren Menschen, aber ist seinen Zeitgenossen und ihren prophetischen Anliegen aufs Innigste verbunden und verneint mit ihnen, dass eines Menschen Glück neben eines anderen Schmerz jemals Frieden bedeuten kann.“ Bezugnehmend auf die im Jahr zuvor stattgefundene Mondlandung sieht sie die Platte als Beginn einer neuen Ära und datiert sie auf das Jahr 1. Ananda Shankar selbst betrachtet sich als einfachen Vertreter einer Jugend, deren Werte harte Arbeit, Disziplin, Liebe, Hingabe und Achtung vor der Vergangenheit sind.

Die von ihm mit Gitarre, Drums, Bass, Moog-Synthesizer, Tabla und Sitar eingespielten Verbindungen aus Rock und Raga waren bei kalifornischen Hippies ebenso beliebt wie in Indien, wo viele in Ananda Shankar die Stimme eines modernen Indien sahen. Seine Musik wurde von einigen als futuristische Exotik empfunden, anderen galt sie als eine indische Form von Soul. Seit der englische Musikproduzent David Holmes 1999 zwei seiner Hits auf einer Compilation coverte, kann es passieren, dass einem Shankars Sitarversion von „Jumping Jack Flash“ zur Primetime auf einem pumpenden Housefloor begegnet, der daraufhin so richtig ausrastet.

Der Sänger Pran Nath hatte sich schon als kleiner Junge intensiv mit der Notation von Ragas beschäftigt. Als seine davon überforderte Mutter ihn im Alter von dreizehn Jahren vor die Wahl stellte, sich gegen die Musik zu entscheiden oder das Haus zu verlassen, zögerte er nicht lange und ging. Er begegnete Ustad Abdul Wahid Khansahib, einem Sufi-Meistersänger, dessen Repertoire aus lediglich zwei Ragas bestand, die er stets weiter perfektionierte. 1937 zog sich der damals 19-jährige Pran Nath in den ältesten Shiva-Tempel Indiens, die Höhle von Tapkeshwar, zurück, wo er in den folgenden fünf Jahren nicht viel mehr tat, als mit anderen Sadhus nahezu nackt für seinen Gott zu singen. Eine Routine, die einzig dadurch unterbrochen wurde, dass er gelegentlich zu Radioaufnahmen in die Studios von All India Radio aufbrach.

Als der Leiter des New Yorker Dream Syndicate und Minimalist der ersten Stunde, La Monte Young, 1967 erstmals von Pran Nath vorgetragene Ragas hörte, war er schwer beeindruckt. Sein Interesse an lang anhaltenden, sich überlappenden Drones, die mit der Wahrnehmung von Zeit und Raum beim Hörer spielen und diesen einer neuen, befremdlichen Realität scheinbarer Leere aussetzen, spiegelte sich im Gesang Pran Naths sehr viel deutlicher als in dem anderer Ragas. Young gelang es, Pran Nath 1970 mittels eines Stipendiums in die USA zu holen. Sie fuhren für einige Konzerte nach San Francisco, wo sie von Terry Riley bereits sehnlichst erwartet wurden. Dessen kurz zuvor erschienene Platte „Rainbow in Curved Air“ hatte deutliche Affinität zu indischer Musik erkennen lassen, und als er Pran Nath das erste Mal singen hörte, war er so ergriffen, dass er weinen musste. Fortan verbrachte Terry Riley viel Zeit mit Unterricht im bescheidenen Haus des Sängers im nordindischen Delhi.

Pran Nath sang seine Ragas oft stundenlang an speziellen, öffentlichen Orten – mitunter bis zum Bauch im Wasser eines Flusses stehend. Vom Leben in den USA zeigte er sich mit Ausnahme von Fernsehen und teurem Whisky nicht übermäßig beeindruckt. Dennoch verbrachte er dort bis zu seinem Tod 1996 immer wieder viel Zeit.

Fünf Jahre nach dem Welterfolg von „Saturday Night Fever“ kam 1982 Babbar Subhashs Film „Disco Dancer“ in die indischen Kinos. Die Hauptfigur Jimmy lebt für und durch das Tanzen, hat Talent und ist unbeirrbar in seinem Glauben an sich selbst. Ihm gelingt schließlich nicht nur der berufliche Durchbruch, sondern er schafft es sogar, in der Liebe die Schranken der Kastensegregation zu überwinden. Auf dem Weg dorthin muss Jimmy allerdings gegen zahlreiche Widerstände eines skrupellosen Musikbusiness kämpfen. Er verliert auf tragische Weise seine Mutter und wird von einer Schlägerbande zum Krüppel geprügelt.

Der Soundtrack zum Film stammt von Bappi Lahiri und enthält eine Coverversion des Stückes, mit dem MTV 1981 den Sendebetrieb aufnahm: „Video killed the Radiostars“ von den Buggles. Im Kontext des Films wirkt es allerdings nicht wie eine Kopie, sondern funktioniert absolut eigenständig. Lahiri hat in den letzten 30 Jahren Musik für über 400 Soundtracks geschrieben. Aber er gilt auch als Copycat, der Modern Talkings Welthit „Brother Louie“ zu „Zooby Zooby“ machte und auch vor dem Aneignen indischer Volksmusik nicht zurückschreckte. Wie „Saturday Night Fever“ markierte auch „Disco Dancer“ den Höhepunkt einer Bewegung. Discomusik traf in den frühen 80er-Jahren in Indien den Nerv einer tanzbegeisterten Nation und bot eine Möglichkeit, den vielen Einschränkungen und Tabus des täglichen Lebens für kurze Zeit zu entkommen.

Auch andere Musikproduzenten ließen sich von westlichen Vorbildern inspirieren. So nahm der bekannte Playbacksänger und Schauspieler Mahendra Kapoor zusammen mit der Sängerin Musarrat 1981 eine Platte mit Coverversionen von Boney M auf, die „Disco Fantasy in Hindi“. Fünf Jahre nach deren Nummer-eins-Erfolg „Daddy Cool“ war die Begeisterung des Duos immer noch so groß, dass es den Hit „Sunny“ gleich in zwei Variationen aufnahm: als „Raja“ (König) und „Rani“ (Königin).

Im gleichen Jahr veröffentlichten die in London lebenden Schwestern Salma und Sabina Agha ihre Platte mit Hindi-Variationen der schwedischen Topgruppe Abba und wurden damit nicht nur zu Lieblingen des englischen Radio-DJs John Peel, sondern waren auch in Indien sehr angesagt. Die beiden gingen bei den Übersetzungen vieler Titel werkgetreu vor. Aus „Mamma Mia“, das von einer sich zur Trennung von ihrem Mann durchringenden Frau handelt, wurde „Toba Toba“: Es reicht. Und das die Gedanken an eine Nacht mit ihrem Lover nachvollziehende „Fernando“ mutierte zu „Hum Rahi“, dem Zusammensein von Mann und Frau.

Für Salma Agha bedeutete diese Platte auch den Beginn einer Karriere als Schauspielerin. In ihrem Debütfilm „Nikaah“ spielt und singt sie an der Seite von Mahendra Kapoor. Von Disco sind die beiden da allerdings schon wieder meilenweit entfernt.

PAUL PAULUN, geboren 1967, lebt in Berlin. Er ist Sounddesigner, DJ und Journalist (Radio-Features, Hörstücke, Themensendungen)