Gilliams "Das Kabinett des Dr. Parnassus": Wahn und Wirklichkeit im Weitwinkel
In Terry Gilliams neuem Film "Das Kabinett des Dr. Parnassus" bleibt die Katastrophe aus. Man merkt dem Film an, dass er den Widerspruch zwischen Fakt und Fiktion schlecht verdaut.
Kurz vor dem Ende steht ein sehr alter und sehr zerlumpter Mann vor der Glasfront eines vornehmen Restaurants und sieht der Gründung einer Familie auf der anderen Seite der Scheibe zu. Vor langer Zeit, oder rund einhundert Filmminuten früher, war der ungewaschene Obdachlose noch der mächtigste Zauberer der Welt, im Besitz eines magischen und durchlässigen Spiegels, der imstande war, begehbare Wunschwelten zu erschaffen. Die andere Seite der Fensterfront dieses Restaurants allerdings wird für Dr. Parnassus (Christopher Plummer) immer unzugänglich bleiben.
So endet "Das Kabinett des Dr. Parnassus" von Regisseur Terry Gilliam auf seltsame Weise Gilliam-untypisch: Die Wirklichkeit obsiegt, die Katastrophe bleibt aus. Alles geht weiter seinen Gang, der Bösewicht erhält seine verdiente Strafe, die Übrigen richten sich in der Realität ein, die etwas weniger bunt geworden ist. Ohne Zauberspiegel und ohne magische Verwandlungen.
Das war einmal anders. "Brazil", Gilliams radikale Mischung aus "1984", Kafka und Fantasy-Elementen endete noch damit, dass Jonathan Pryce als Beinahe-Held am Ende seinen Verfolgern zwar entkommt, aber eben nur in seiner Fantasie. In der Filmwirklichkeit ist er unter den Händen eines bürokratischen Folterknechts wahnsinnig geworden.
Dieser Konflikt steckt in allen Werken des ehemaligen Monty-Python-Mitglieds Gilliam: Fantasie gegen Realität, Traumwelten gegen kaputte Wirklichkeit. Baron Münchhausen rettet die Stadt vor der Vernichtung durch seine Lügengeschichten. Die Brüder Grimm sind ebenfalls talentierte Lügner, aber ihre Taschenspielertricks lassen sich erfolgreich auch gegen echte Hexen einsetzen.
Man darf dabei nicht vergessen, dass für Gilliam der Träumer nichts Unschuldiges ist. Auch die Gegenseite träumt: den Traum der Rationalität, den Traum der vollkommenen Verwaltung der Gesellschaft, den Traum der ewigen Jugend. Der Träumer kann jederzeit in einem Albtraum aufwachen. In "Der König der Fischer" hört Robin Williams nicht auf, davon zu träumen, dass er in New York auf der Suche nach dem Heiligen Gral sei. In "Tideland" träumt die Tochter, ihr Vater würde im Sessel nur schlafen und nicht nach seinem Drogentod dort bloß noch verrotten, und ihre besten Freundinnen wären echt und nicht bloß abgerissene Puppenköpfe.
Gilliam ist keiner, der wunschpädagogisch bloß "mehr Fantasie" verlangen würde. Er ist einer, der weiß, dass wir gar nicht anders können, als in und mit unseren Fantasien und vor allem (und vielleicht liegt darin der eigentliche Schrecken) mit und in den Träumen und Wünschen der anderen zu leben. "All die Träume, die sie immer hatten. Und nicht nur die guten", lautete das Motto von "Time Bandits". So handelt jeder Gilliam-Film eigentlich davon, dass die Wirklichkeit einen immer einholen kann und wir uns in einem Dazwischen einrichten müssen. Zwischen dem Traum und seiner Erfüllung. Zwischen Europa und Amerika. Zwischen Heute und Gestern. Wohl deshalb sind die Obdachlosen, vom "König der Fischer" über "Twelve Monkeys" bis zu "Dr. Parnassus", wiederkehrende Figuren.
In allen Filmen Gilliams blickt man gewissermaßen von einer spätmodernen Warte aus durch den Filter einer skeptisch gewordenen Aufklärung auf die Romantik, wie sie sich das Mittelalter vorgestellt hat. Man muss sich Gilliam als Renaissance-Menschen vorstellen: Die Pest steht vor der Tür, nur die Medizin kann uns retten, aber mit den Wissenschaften stehen uns womöglich die tödlicheren Waffen ins Haus. "Münchhausen" beginnt mit dem Titel: "Das Zeitalter der Aufklärung", bevor eine Kanonenkugel durchs Bild rauscht, die eine Stadt zerstört. Dann sieht man zerfetzte und verstümmelte Körper. "Twelve Monkeys" wird ähnliche Bilder aus den Schützengräben des Ersten Weltkrieges zeigen. Der Schrecken ist immer sehr greifbar in Gilliams Filmen.
Um dem Tod zu entkommen, gibt es zwei Wege: Entweder man lügt ihm etwas vor. Alle Erzählungen und Schöpfungen der Kultur sind letzten Endes nichts als Finten, die dazu dienen, den Tod noch eine kleine Weile so zu unterhalten, dass er seine Aufgabe vergisst. (Man stiehlt ein wenig Zeit und wird zum "Time Bandit".) Oder man rennt, was das Zeug hält. Gilliam-Figuren sind immer unterwegs, entweder aus dem Traum heraus in die Wirklichkeit oder aus der Wirklichkeit in den Traum hinein. "Fear and Loathing in Las Vegas" ist ein einziger bad trip auf der Grenze zwischen beiden Welten.
Gilliam will immer beides zugleich, die Wirklichkeit und den Wahn. Die Weitwinkel-Linse ist seine typische Perspektive. Die verkürzte Brennweite verzerrt den Größenmaßstab, der größere Blickwinkel erlaubt, mehr Dinge in ein Bild zu bannen. Die Tiefenschärfe bildet jeden Gegenstand mit halluzinatorischer Genauigkeit ab, zugleich entwindet sich das Bild sozusagen dem Realen, weil man bei einem solchen Bild nie weiß, wie man hineingreifen sollte, wollte man einen Gegenstand darin zu fassen kriegen. Außerdem, so der Regisseur selbst, ist die Weitwinkel-Linse eine ökonomische Maßnahme: Selbst kleine Sets wirken dadurch riesig.
Das ist gar nicht so unwichtig für einen, der unter Geldgebern nicht den besten Ruf hat. Mit "Brazil" begann, was mitunter der "Gilliam curse" genannt wird, der Fluch, der auf den Projekten des Regisseurs lasten soll. Der speist sich aus zweierlei. Erstens aus der Weigerung des Filmemachers, sich auf Bevormundung der Studios einzulassen. So wollten die Produzenten von "Brazil" ein "zuschauerfreundlicheres" Ende und schnitten den Film weitgehend um. Daraufhin führte Gilliam seine Fassung heimlich einer Reihe von Kritikern vor, die ihm prompt den Preis für den besten Film des Jahres verliehen. Zwar musste das Studio klein beigeben. Doch seither gilt Gilliam in Produzentenkreisen als "eigensinnig".
Zweite Quelle für den Fluch ist das Desaster der "Abenteuer des Baron Münchhausen". Die wurden an den Kinokassen das, was man ein finanzielles Fiasko nennt; Verteidiger von Gilliam geben allerdings zu bedenken, dass ein Machtkampf an der Spitze von Columbia Pictures dazu führte, dass der Film nie angemessen in den Kinos gezeigt wurde. Seither gilt Gilliam jedenfalls als "teuer". Über die Jahre ist die Liste der nicht verwirklichten Projekte Gilliams immer länger geworden. Gilliam war Joanne K. Rowlings erste Wahl für die "Harry Potter"-Filme. Das Filmstudio Warner lehnte dankend ab und setzte statt dessen den harmlosen "Kevin - allein zu Haus"-Regisseur Chris Columbus ein. Nach Jahren der Vorbereitung für "The Man Who Killed Don Quixote" setzte eine Sturmflut in der ersten Woche das Set unter Wasser, dann wurde Hauptdarsteller Jean Rochefort so krank, dass der Dreh endgültig abgebrochen werden musste.
Und mitten während der Dreharbeiten zu "Dr. Parnassus" stirbt der Hauptdarsteller Heath Ledger an einem schlechten Tablettenmix. In diesem Fall holte die Wirklichkeit die Fantasie auf eine besonders perfide Weise ein. Gilliam musste umschreiben und nachdrehen. Colin Farrell, Jude Law und Johnny Depp übernahmen jeweils den Part Heath Ledgers hinter dem Zauberspiegel, der - ausgerechnet - eine zwielichtige Figur spielt, die nicht sterben kann. Bei Ledgers erstem Auftritt wird er von einem Galgenstrick geschnitten. Die Szene ist zum Heulen.
Man merkt dem Film an, dass er den Widerspruch zwischen Fakt und Fiktion in diesem Fall nur schlecht verdauen konnte. Ganz am Ende sitzen Dr. Parnassus und der Teufel (Tom Waits) in den Straßen Londons beisammen. Und scheinen, für einen Gilliam-Film merkwürdig genug, miteinander versöhnt. Die Erzählung, die die Welt vor ihrem Ende bewahren soll, die Rettung der Seelen der Menschen: Es war alles bloß eine Wette zwischen zwei eitlen Männern, alles bloß ein Spiel. Weiter von sich selbst entfernt war Gilliam nie.
"Das Kabinett des Dr. Parnassus". Regie Terry Gilliam. Mit Johnny Depp, Heath Ledger u. a., Frankreich, Kanada, Großbritannien 2009, 122 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs