Gewerkschaften: Abschied vom Solidaritätsprinzip : Halbe – Halbe
Seltsame Eintracht: Weil der Arbeitsfrieden sowieso längst schief hängt, wird an den Tarifvereinbarungen von beiden Seiten her gebohrt. Arbeitgeber und Gewerkschaftler suchen nach neuen Schlupflöchern, um sich Vorteile zu sichern
Wenn die gelben Engel vom ADAC erst die Hand aufhalten, bevor sie die Schraubenschlüssel schwingen, rege sich doch auch niemand auf, sagt Wolfgang Denia, Verdi-Landeschef von Niedersachsen und Bremen sinngemäß. „Keiner erwartet, dass er, wenn er aus der Kirche austritt, noch vom Pfarrer bestattet wird.“ Damit setzt er eine Diskussion fort, die den von den Gewerkschaften wie eine Wunderwaffe gehandelten Flächentarifvertrag weiter bröseln lassen dürfte.
Noch gelten die in zähen Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelten Tariferhöhungen für alle Arbeitnehmer. Noch zahlen die Bosse an alle, weil die Zahl der Gewerkschaftler nicht unnötig weitersteigen soll. Dabei geht es auch um den Betriebsfrieden. Slogan: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.“ Denia will aus dem Solidaritätsprinzip ausscheren. Mitgliedern soll mehr geboten werden als Verdi-Kugelschreiber, günstige Rechtsschutz-Versicherungen und die Mitglieder-Zeitschrift. „Denkbar“ sei, das Urlaubs- und Weihnachtsgeld nur noch für Verdianer auszuhandeln. So werde „sehr viel spürbarer, dass sich die Mitgliedschaft lohnt“. Die Gewerkschaft als ADAC für Arbeitnehmer, als reine Interessenvertretung ihrer Mitglieder – ein radikaler Strategiewechsel.
Aber vielleicht notwendig. Die Zahl der Verdi-Mitglieder im Nordwesten ist seit 2002 von 345.000 auf rund 300.000 gesunken. Bundesweit ist der Trend noch bedrohlicher: Etwa 600.000 Gewerkschafter – das entspricht immerhin der Einwohnerzahl einer Großstadt – kehrten den DGB-Einzelgewerkschaften seit 1990 den Rücken. Bitter auch, dass selbst die Genossen inzwischen Mitarbeiter entlassen müssen. Ein Prozent des Bruttogehalts kostet die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Immer mehr Arbeiter und Angestellte rechnen genau, ob sich zehn, zwanzig, dreißig oder gar noch mehr Euro im Monat auch „lohnen“. Zumal Mitglieder Teil eines Vereins sind, in dem für viele nur noch „Bremser“ und „Blockierer“ sitzen.
Es ist nicht nur das Imageproblem. „Der Solidaritätsgedanke steht in unserer Gesellschaft nicht mehr im Vordergrund“, sagt Denia. Viele wissen aber auch nicht mehr, wozu Gewerkschaften nütze sind: „Viele Jugendliche glauben doch, der Bundeskanzler würde ihre Löhne festsetzen“, sagt ein Verdi-Mann. Viel mehr außer Jobgarantien haben die Verdi-Leute oder IG Metaller allerdings in den letzten Monaten auch nicht rausgeholt.
Das Problem ist erkannt. Seit Jahren versuchen Gewerkschaftler, mit Extrawürsten für Mitglieder gegenzusteuern. Vergünstigte Dauerkarten für den VfL, Rabatte auf Reisen, bei Friseur- oder Konzertbesuchen erhalten IG Metaller in Wolfsburg, wenn sie eine Mitgliedskarte vorlegen können. Immerhin ist die Zahl der Mitglieder in VW-City in den letzten zehn Jahren von 60.000 auf 70.000 gestiegen. Die Genossen in Nordrhein-Westfalen gehen weiter. Dort sind bereits zwei Dutzend Tarifvereinbarungen abgeschlossen worden, die „Sonderleistungen“ für Gewerkschaftsmitglieder vorsehen. „Wir sehen nicht mehr ein, dass unsere Mitglieder entscheidend zum Tariferfolg beitragen und wie andere behandelt werden, die sich raushalten“, sagt der Chef des IG Metall-Bezirks, Detlef Wetzel. Die Metaller schließen inzwischen in Betrieben, die wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten die Leistungen des Flächentarifs nicht mehr erfüllen können, Haustarife mit Sonderleistungen für Mitglieder ab. Im Angebot: mehr Urlaub, Riesterrente, Beiträge zur Altersvorsorge oder ein Gesundheitscheck nur für IG Metaller. Nach solchen Sonderregelungen „vergrößern wir unseren Organisationsgrad in den jeweiligen Betrieben normalerweise um zehn bis zwanzig Prozent“, freut sich Wetzel.
Natürlich hat er sich umgehend eine blutige Schnauze geholt. Die niedersächsische IG Metall hält Mitglieder-Boni für „keine Wunderwaffe“. Von einer „Schnapsidee“ sprach der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Michael Rogowski. Sie werde dazu führen, „dass noch mehr Betriebe aus den Verbänden austreten. Damit schießen sich die Gewerkschaften ins eigene Knie.“ Die Bonus-Regelungen seien zudem „jederzeit vor Gericht anfechtbar“. Laut einem Urteil dürfen Vergünstigungen für Gewerkschaftsmitglieder die Höhe des monatlichen Gewerkschaftsbeitrages nicht übersteigen.
Dennoch: Still und leise sind in den letzten Monaten vielerorts Boni eingeführt wurden – mit bundesweiter Geltung. Verdi verweist auf einen Pflegeheim-Konzern, der das Weihnachtsgeld nur noch den Gewerkschaftlern unter seinen 9.500 Mitarbeitern zahlen will. Die Stadt Leipzig gewährte Organisierten einen um ein Jahr verlängerten Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen. Einen triftigen Grund gegen Sonderleistungen für Mitglieder brachte zuletzt Jörg Hofmann, Bezirkschef der IG Metall in Baden-Württemberg, ins Spiel: „Genauso könnten die Arbeitgeber einen Bonus ausschließlich für Beschäftigte ausloben, die nicht IG-Metall-Mitglied sind.“ K. Schöneberg