Gewaltbereite Fußballfans: Lernen in der Kurve
Die ausufernde Gewalt im deutschen Fußball erschreckt mehr den je. Nun fordern die Fanprojekte die Vereine zum Dialog auf.
Michael Gabriel und Volker Goll sind als leidenschaftliche Fußballfans oft genug im Stadion, um ihre Einschätzung zu einer besorgniserregenden Entwicklung abzugeben. „Es besteht ein allgemeines Problem mit Respekt. Die Hemmschwelle ist gesunken, das macht Bauchschmerzen“, erklärt Goll. „Die Grenze von verbalen Beschimpfungen zu körperlichen Bedrohungen hat sich verschoben“, ergänzt Gabriel.
Die beiden Mitarbeiter der in Frankfurt ansässigen Koordinationsstelle Fanprojekte (Kos) haben am Montag eigentlich ihren neuen Sachbericht vorstellen wollen, doch es vergeht ja kaum ein Wochenende, an dem die Gewaltdebatte im deutschen Fußball nicht um neue Facetten bereichert wird.
Der Fall Kevin Pezzoni, der seinen Vertrag beim 1. FC Köln aufgelöst hat, weil ihn gewalttätige Fans aus dem eigenen Lager erneut bedroht haben, stellt auch die Fanexperten vor Rätsel. „Es ist eine verfahrene Situation in Köln“, sagt Gabriel, der die beste Einlassung zu dieser Thematik dem Dortmunder Trainer Jürgen Klopp zuschreibt.
Der insistierte, den Fußball nur als Spiel zu verstehen, „sonst müssen wir es lassen“. Gabriel: „Der Fußball erfährt in seiner Bedeutung eine ungeheure Überhöhung – durch die Vereine, durch die Medien.“ Die unheilvolle Mixtur braut sich dann zusammen, „wenn nur der Fußball jungen Menschen eine soziale Zusammengehörigkeit vermittelt, die woanders längst verloren gegangen ist.“
Angst vor englischen Verhältnissen
Genau an dieser Schnittstelle setzen die präventiv agierenden Fanprojekte an, bei denen sich oft zwei Mitarbeiter einer Tausende Köpfe zählenden Szene gegenüberstehen. Die Kos spricht von „der Stehplatz-Kurve als Lernort“, warnt vor Verhältnissen wie in englischen Stadien, wo die Abschaffung der Stehplätze und die Erhöhung der Eintrittspreise dazu geführt haben, dass das Durchschnittsalter des Besuchers bei 48 Jahren liegt.
Goll und Gabriel wollen die „einzigartige Fankultur“ hierzulande erhalten, setzen auf „Kommunikation statt Konfrontation“ und zählen Beispiele von Selbstreinigungskräften selbst bei problematischen Fangruppierungen von Dynamo Dresden auf. Allerdings, führt Goll aus, „müssen die Vereine auch auf die Fans zugehen und so pflegen, wie sie das mit den Sponsoren tun“.
In manchen Vorständen herrsche Hochnäsigkeit gegenüber den Fanvertretern. Am Ende bleiben irreparable Missverständnisse. Gabriel glaubt: „Vereine dürfen sich nicht scheuen, Grenzen zu ziehen. Je mehr ein Verein sich auch in ruhigen Zeiten mit seiner Fanszene auseinandersetzt, desto höher ist die Akzeptanz in schwierigeren Phasen.“
Es ist ein zweischneidiges Schwert, wenn 96-Präsident Martin Kind wie am Sonntag die eigene Anhängerschaft für Schmähgesänge gegenüber dem nach Wolfsburg gewechselten Verteidiger Emanuel Pogatetz scharf angeht. Kind hatte Teile der eigenen Fans wegen der Sprechchöre („Sohn einer Hure“) als „Arschlöcher“ tituliert und ihnen empfohlen, „nur Sky zu kaufen und zu Hause zu bleiben“. Gabriel glaubt, dass damit das Problem nicht gelöst wird.
Basisarbeit ohne Alternative
Im Gegenteil: „Die wichtigsten Player im Zusammenhang mit Fanverhalten sind die Entscheidungsträger der Vereine. Es ist immer besser, mit den Fans hinter verschlossenen Türen zu sprechen, anstatt sich öffentlich über sie zu äußern.“ Zur Basisarbeit gibt es aus Sicht der Kos kaum eine Alternative. Anders als 1993, als es nur ein Dutzend Fanprojekte mit 24 Mitarbeitern gab, sind solche Einrichtungen mittlerweile in 47 Städten mit 115 hauptamtlichen Spezialisten installiert.
Gleichwohl: Nicht nur die Fluktuation unter den vielfach überlasteten Mitarbeitern macht Sorge, sondern auch die Finanzierung, die sich bislang Kommune, Land und DFB/DFL zu je einem Drittel geteilt haben. Eigentlich wurde beim Sicherheitsgipfel in Berlin im Juli fix zugesagt, die Zuwendungen für die Fanprojekte zu erhöhen, „aber bis jetzt ist kein zusätzlicher Cent angekommen“, versichert Gabriel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen