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Fast vierzig Jahre lang lehrte und forschte Thomas Nielebock an der Uni Tübingen zur Friedens- und Konfliktforschung. In den 1970ern gehörte er zu den ersten Studierenden des jungen Faches – das für die Politik damals weit wichtiger war als heute während des Ukrainekrieges.

Großdemonstrationen der Friedensbewegung gegen atomare Wiederbewaffnung in Bonn, Oktober 1981. Fotos: Joachim E. Röttgers

Von Oliver Stenzel↓

Thomas Nielebock ist keiner jener Akademiker, die sich auch nach dem Ausscheiden aus dem Uni-Betrieb im Elfenbeinturm und am Schreibtisch verstecken. In den letzten Tagen war er viel auf dem Acker – gemeinsam mit mehreren anderen Menschen bewirtschaftet er seit einigen Jahren ein Flurstück am Rand von Immenhausen, wo er mit seiner Frau in einem Einfamilienhaus lebt. Aktuell stand die Kartoffelernte an. „Es ist wie Goldklumpen finden, wenn man Kartoffeln ausgräbt“, sagt Nielebock. Ein kleines ländliches Idyll ist dieses Immenhausen, etwa in der Mitte zwischen dem Albtrauf im Südosten und Tübingen mit seiner Universität im Nordwesten, wo Nielebock fast 40 Jahre lang lehrte und forschte.

Trotz Idylle und Feldarbeit: Es ist nicht so, dass der 1953 in Mannheim geborene und in Bad Urach aufgewachsene Friedensforscher seit seinem Eintritt in den Ruhestand vor fünf Jahren die wissenschaftliche Arbeit ganz an den Nagel gehängt hat. Im Gegenteil. Weil Nielebock das Gefühl hat, dass es aktuell in der deutschen Friedensforschung einige Leerstellen gibt in Bezug auf den Ukraine-Krieg, hat er im April das Papier „Deeskalation aktiv angehen – ein Denkanstoß“ verfasst. „Die Kolleginnen und Kollegen machen sich durchaus große Gedanken über Verhandlungen“, sagt Nielebock. „Aber immer eher über das prozedurale Vorgehen, unter welchen Bedingungen kommen die zustande und so weiter“. Was ihm fehlt, ist eine inhaltliche Auseinandersetzung, wie Verhandlungen ausgestaltet sein müssten.

Deshalb fordert Nielebock in seinem Papier schon jetzt „Strategien und Verfahren für Verhandlungen auszuarbeiten sowie die inhaltlichen Positionen dafür zu bestimmen, um dann die richtigen Schritte unternehmen zu können, wenn man ein Fenster der Gelegenheit für Verhandlungen geöffnet hat“.

Seine Sicht vertritt Nielebocks zudem seit kurzem als Teil der Gruppe „Aufbruch zum Frieden“, die sich am 22. Juli bei einer Kontext-Veranstaltung in Stuttgart erstmals der Öffentlichkeit präsentiert hat (Kontext berichtete) und neben ihm aus Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), dem Leiter der Reutlinger Volkshochschule Ulrich Bausch und der Theologin Susanne Büttner besteht. Aktuell plant die Gruppe, eine Folgeveranstaltung – „eine Nummer größer“ – auf die Beine zu stellen, zu der Leute aus der politischen Mitte, „oder linksliberalen Mitte“, eingeladen werden. Ort und Zeit sind noch unbestimmt, aber Ziel ist es, eine Vernetzung der baden-württembergischen Initiativen, von Menschen, die ähnlich denken, voranzutreiben. „Wir wollen die Leute mobilisieren, die gedanklich über einfache Forderungen wie ‚Keine Waffenlieferungen mehr‘ hinausgehen“, sagt Nielebock. Da wolle man sehr offen sein, aber wichtig sei es, den Leuten zu sagen: „Denkt doch einfach mal über Alternativen, über andere Wege nach.“

In Alternativen zu denken, an die davor nicht gedacht wurde, stand im Prinzip am Beginn der sozialwissenschaftlichen Friedensforschung. Die hat ihre Anfänge in den 1950er-Jahren in Skandinavien. 1959 gründete der norwegische Soziologe und Politologe Johan Galtung in Oslo das Institut für Friedensforschung (PRIO), das erste Institut seiner Art in Europa. „Galtung war schon prägend“, sagt Nielebock, allein mit seinem mehrdimensionalen Gewaltbegriff, der direkten, strukturellen und kulturellen Gewalt.

Die neu institutionalisierte Friedensforschung prägte ein völlig anderer Blick auf die internationale Politik, erzählt der 70-Jährige. Bis dahin dominierte als Theorie der klassische Realismus: Staaten stehen dabei als Akteure im Fokus, es geht immer um Stabilität, kalkuliert wird mit Machtpolitik. „Jeder misstraut dem anderen, das führt zur Vorstellung, man muss sich schützen, man muss aufrüsten, sonst frisst mich der andere.“ Frieden definieren Realisten negativ, als „Abwesenheit von Krieg“.

Ganz anders der Ansatz der Friedensforschung, die ein deutlich pluralerer Blick auszeichnet, und die sich neuer theoretischer Konzepte wie etwa der Interdependenztheorie bediente. Der neue Ansatz hatte von vornherein einen konfliktpräventiven Impetus: „Ziel ist, Gewalt vorzubeugen durch Einhegung, Institutionen, Normen, Diplomatie und Verhandlungen“, sagt Nielebock. Berücksichtigt werden weit mehr Akteure, nichtstaatliche und transnationale wie die OSZE oder die EU, über die vertrauensbildende Maßnahmen möglich sind. Interessen von Staaten werden zwar nicht negiert, aber Kooperation spielt eine viel größere Rolle – denn Kooperation ermöglicht, Ziele mit geringerem Aufwand als alleine zu erreichen. „Da geht es sowohl in Analyse als auch Lehre um eine Veränderung des Mindsets“, sagt Nielebock.

Wichtig: eine Studie über Kriegsverhütung

Als Nielebock 1972 mit dem Studium der Politik, Geschichte und Germanistik in Tübingen anfing, war die Friedensforschung als akademische Disziplin noch ganz jung in Deutschland. Am Anfang stand der Arbeitskreis für Friedens- und Konfliktforschung, der 1968 in Bonn von Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen gegründet wurde. In Tübingen war der Politikprofessor Volker Rittberger ab 1973 der Pionier dieser Richtung, und er wurde auch zum Mentor Nielebocks.

Interessiert für Frieden und internationale Politik hatte sich Nielebock schon davor. Die Ruinen Mannheims hätten das gespeist, die Angst der Eltern vor der Kubakrise 1962. Konkreter wurde das Interesse, als er sich 1971 die von Carl Friedrich von Weizsäcker herausgegebene Studie „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ kaufte. „Darin haben Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen herausgearbeitet, dass die Bundesrepublik im Falle eines Angriffs nicht verteidigt werden kann.“ So sensibilisiert, sei er später an der Uni dann reingerutscht in Rittbergers Arbeitsgruppe zu Friedens- und Konfliktforschung. „Diesen neuen Blick der Friedensforschung, dass Misstrauen überwunden werden kann, den fand ich interessant. Und der änderte ja auch politisch etwas.“

Dass die Friedensforschung in dieser Zeit einen großen Aufschwung erlebte, kam nicht von ungefähr: Die 68er-Bewegung hatte nicht nur gesellschaftliche, sondern auch politische Umwälzungen beschleunigt. 1969 wurde mit dem Sozialdemokraten Gustav Heinemann ein Politiker zum Bundespräsidenten gewählt, der die Verpflichtung zum Frieden gleich in seiner Antrittsrede betonte: Nicht der Krieg, „sondern der Friede ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben“. Und 1969 gelangte auch die sozialliberale Koalition um Willy Brandt/Walter Scheel an die Regierung, zu deren zentralen Zielen die Entspannungspolitik zwischen Ost und West gehörte. Für diese Politik brauchten Brandt und Scheel Legitimation, förderten das neue Fach – genau wie umgekehrt Erkenntnisse der Friedensforschung in die Praxis der Entspannungspolitik hineinwirkten.

Der Weg in die universitäre Lehre, war für Nielebock dennoch kein ganz gerader. Nach dem Ende des Studiums 1978 folgte bis 1980 ein journalistisches Intermezzo: Er absolvierte ein Volontariat beim Metzinger-Uracher Volksblatt. „Das habe ich gerne gemacht“, erzählt Nielebock. „Bloß nicht so gerne, dass ich geblieben wäre.“

Lieber Vorträge als Demonstrationen

Nielebock ging zurück an die Uni Tübingen. Dass er hier bis 2019 blieb und über Wege zum Frieden und friedliche Konfliktbewältigung lehrte und forschte, am Ende als Akademischer Oberrat, lag im Grunde am vorübergehenden Ende der Entspannungspolitik. Die Aufrüstungsdebatte nach dem Nato-Doppelbeschluss sorgte für eine bis dahin kaum vorstellbare Mobilisierung der westdeutschen Friedensbewegung. Im Jahr 1981 demonstrierten im Bonner Hofgarten Hunderttausende – und wegen dieser ganzen Stimmung entschied sich die Uni Tübingen, eine extra Stelle für Friedensforschung einzurichten. Es wurde Nielebocks Stelle.

Auch wenn es die Zeit der großen Friedensdemonstrationen war, aktivistisch war Nielebock da eher nicht dabei. „Das habe ich mich immer nicht so richtig getraut“, sagt er heute rückblickend. „Ich habe eher versucht, über Vorträge und Reden aufzuklären.“

Zu Nielebocks Schwerpunkten an der Uni entwickelten sich Rüstung und Rüstungskontrolle, Verhandlungen, Mediation und Friedenspädagogik. „Die Lehre war für mich immer sehr wichtig“, sagt er, zu den Höhepunkten hätten Exkursionen mit seinen Studierenden zur OSZE, zum Europarat, dem Europäischen Parlament und zur NATO nach Brüssel gehört. Und dreitägige Simulationen im Haus auf der Alb in Bad Urach, wo er mit seinen Studierenden Konflikte parallel zur Realität simulierte und moderierte – „zum Beispiel die Abtrennung des Südsudans vom Sudan, das Atomabkommen des Iran mit den westlichen Staaten, Verhandlungen der türkischen Regierung mit der PKK“. Sie seien immer etwas früher fertig gewesen – „und es waren ganz ähnliche Ergebnisse, wie sie in der Realität dann stattgefunden haben“.

Eine „Herzensangelegenheit“ sei ihm immer die Friedenspädagogik gewesen, vor allem die Erziehung zur Friedensliebe. Das habe mit Artikel 12 der baden-württembergischen Landesverfassung zu tun: „Die Jugend ist (...) zur Friedensliebe (...) zu erziehen“, heißt es da. „Aber wie erfahren die Lehramtsstudierenden in ihrer Ausbildung, wie sie das an den Schulen machen sollen?“, fragt Nielebock. Seminare dazu sollten eigentlich ein Pflichtprogramm an allen Unis mit Lehramtsstudiengängen sein, doch davon sei man weit entfernt. Zurzeit ist es nur ein freiwilliges Programm in Tübingen, immerhin.

Wie geht Friedensbildung?

In dieses Feld fällt auch die Servicestelle Friedensbildung, die er nach wie vor beratend begleitet. Die vom Kultusministerium, der Landeszentrale für politische Bildung und der Berghof Foundation getragene Servicestelle soll dabei helfen, Friedensbildung an den Schulen des Landes zu stärken, dient als Beratungs-, Informations- und Vernetzungsstelle. Ein wichtiges Projekt der Stelle sind die „Modellschulen Friedensbildung“: Solche Schulen sollen sich dauerhaft dem Lernen über und für Frieden widmen, drei gibt es bereits in Baden-Württemberg.

Gegründet wurde die Servicestelle 2015, aus Protest: Gegen einen neuen Erlass, dass die Bundeswehr zu Veranstaltungen in die Schulen dürfe, protestierten viele Friedensgruppen im Land. „Kultusminister war damals Andreas Stoch von der SPD“, erzählt Nielebock, „der hat gesagt, abschaffen können wir den Erlass nicht, aber wir können ja quasi ein kleines Gegengewicht setzen.“ Seitdem gibt es die Stelle mit fünf Mitarbeitenden, was für die große Nachfrage nicht eben viel sei.

Friedensforscher Thomas Nielebock.

Die praktischen Folgen von Friedensbildung sind schwer zu kalkulieren, andere Aktivitäten der Friedensforschung schon. Für die Entspannungspolitik im Kalten Krieg lieferte sie nicht nur Legitimation, sondern auch Handlungsansätze, auch beim Osloer Friedensprozess in den 1990ern zur (immer noch ausstehenden) Lösung des Nahostkonflikts waren Wissenschaftler:innen der Disziplin beteiligt, betont Nielebock. Allein Johan Galtung war als Vermittler und Berater in rund 100 Konflikten weltweit dabei, etwa in Sri Lanka, Nepal, Ecuador oder im Nordkaukasus, und oft durchaus erfolgreich – auch wenn viele Konflikte später wieder aufflammten. Friedensforschung wirkt also – oder zumindest: Sie kann wirken.

Der Blick auf die Gegenwart kann dennoch bisweilen depressiv machen. 2022 starben weltweit in Konflikten 237.000 Menschen, so viel wie seit dem Genozid in Ruanda 1994 nicht mehr. Und 2023 waren es mit rund 160.000 zwar weniger Tote, aber die höchste Zahl von Ländern in Konflikten seit dem Zweiten Weltkrieg.

Nielebock sorgt sich dabei vor allem wegen des Ukrainekriegs. Die Debatte über ihn zeige, dass die Lehren der Friedensforschung hier kaum durchdringen könnten. „Das hat mit etwas zu tun, was ich als eine Regression der Politik bezeichne“, sagt er. „Einen Rückfall in die 1950er-Jahre, in den Kalten Krieg, ohne dass es ein Beziehungsmanagement der großen Konfliktparteien gibt.“ Dieses sei in den letzten 20 Jahren systematisch zerstört worden. Nach der Kubakrise 1962 zwischen den USA und der Sowjetunion sei man schon einmal viel weiter gewesen: „Da hat man plötzlich gemerkt: Hoppla, das war zu riskant, wir haben in den Abgrund geblickt. Da haben beide Seiten gelernt, da haben Chruschtschow und Kennedy gesagt, wir dürfen uns nie mehr in eine Situation bringen, die unausweichlich in den Krieg führen kann.“ Es wurde angefangen, Beziehungen auszubauen, weil es einfach die billigste und banalste Maßnahme war, dazu kamen Verträge, etwa über Rüstungskontrolle, und Verhaltensregeln. Und hinter diesen Stand, hinter diese Lehren sei man jetzt zurückgefallen.

Es komme darauf an, wie lernfähig Gesellschaften seien, und sehr optimistisch ist er nicht. „Offensichtlich funktioniert es schlecht, dass Gesellschaften als Ganzes über den Kopf lernen. Ich fürchte, dass Lernen durch Krisen immer noch das zentrale Moment für gesellschaftlichen Fortschritt ist – wenn es nicht vorher in die Katastrophe geführt hat“, sagt Nielebock – um doch noch der Hoffnung auf ein früheres Lernen ein wenig Raum zu geben. „Deshalb bereiten wir das ja an den Universitäten vor, in dem wir zeigen: Man kann die Welt anders sehen. Es gibt Normen und Regeln, die sind vernünftig. Wenn wir die einhalten, können wir irgendwie leben.“

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