Geschmacksverirrungen von Goethe bis Gottschalk: Deutschland verblasst
Zu Hause bei Fremden
von Miguel Szymanski
Es war eine markante Erfahrung Mitte der 70er Jahre. Nach vielen Stunden im Sud-Express aus Lissabon und dem Umsteigen in Paris sah ich als zehnjähriger Portugiese meine ersten Bilder Deutschlands aus dem Zugfenster, bevor ich einen Schritt auf deutschem Boden getan hatte. Es waren Autos, die parallel zum Zug auf der Autobahn fuhren. Autos in für mich erstaunlich vielen verschiedenen und leuchtenden Farben – in Portugal gab es Privatfahrzeuge zum damaligen Zeitpunkt nur in Schwarz, Grau oder Weiß.
Dann saß ich in einer Wohnung, sah die bunten Autos aus dem Fenster und schaute, wenn es dunkel wurde, in den neuen Fernseher. Auch bei der ARD und dem ZDF ging es, wie ich in den ersten Tagen nach meiner Ankunft feststellen konnte, extrem farbig zu, vor allem, weil ich das Fernsehen bis dahin nur im portugiesischen Schwarz-Weiß kannte. Ich verstand die deutsche Sprache zwar noch nicht, konnte Deutschland und Deutsche aber umso deutlicher sehen.
Die erst Ende der 60er Jahre eingeführte Farbfernsehtechnik wurde in Deutschland nachhaltig zelebriert: Fernsehjournalisten, Moderatoren, Nachrichtensprecher, Politiker und Schauspieler präsentierten sich in salatgrünen, hellblauen oder roten Sakkos und chromatisch abgestimmten Krawatten und Hemden, in Gelb, Lila bis hin zu pfirsichfarbenen Pastelltönen. Thomas Gottschalk, der später als farbenfroher Modepapst der deutschen Eleganz immer neue Höhepunkte bescherte, startete im Jahr, als ich nach Deutschland kam, seine Fernsehkarriere.
Ein langes Jahrzehnt bis zum Abitur und den ersten Semestern an der Uni lebte ich in Deutschland, verbrachte hier unfreiwillig einen Teil meiner Kindheit und Pubertät. Mit 13 kaufte ich meine erste, brandneue LP, „Unbehagen“, ein frühes Warnzeichen vor der unbedachten Übernahme fremden Gedanken-, Kultur- und Farbguts. Nina Hagen war so bunt wie ein kleiner Autobahnstau.
Die durchschnittlichen deutschen Fashionistas, die die Bildschirme und das Straßenbild bevölkerten, wussten: Wenn eine Farbe von den Zentralen in Wolfsburg und Stuttgart als autotauglich eingestuft worden war, eignete sie sich fortan auch für Schuhe, Anzüge, Hemden und Socken.
Der Großteil der nichtmedialen Restbevölkerung unterlag damals einer freiwilligen grün-gelben Uniformpflicht, bestehend aus grünem Parka (knielang, Kapuze) im Winter und gelber Regenjacke (Innenseite blau) im Sommer. Die Auswahl der Kleidungsschichten darunter wurde dann von der kollektiven Farbenfreude und Farbenvielfalt diktiert. Bis auf ein paar Rocker in Schwarz, die in einem benachbarten kleinen Wäldchen Bier tranken und Spaziergänger anpöbelten, war die deutsche Jugend bunt und normalisiert.
Seit drei Jahren lebe ich wieder – wieder unfreiwillig, aber jetzt nicht mehr minderjährig – in Deutschland und stellte sofort nach der Rückkehr fest: H&M, Zara und Co. haben die deutsche Farbkultur weiter homogenisiert.
Die meisten Menschen nehmen heute preisgünstig an den Verwirrungen der Farbfernsehkultur und einer textilen Farbästhetik teil, die seit über 200 Jahren so falsch ist wie die Farbenlehre Goethes. Farben werden hierzulande kombiniert wie Tuning-Freunde in der deutschen Provinz ihre Autos oder Berliner ihre Fahrräder fahren: schnell und ohne Rücksicht auf Verluste.
Nur aus politischer Perspektive gerate ich jetzt, zwei Monate bevor ich aus Deutschland diesmal hoffentlich endgültig nach Süden ziehe, wieder in ein kindliches Staunen über das deutsche Farbphänomen. Diesmal mit entgegengesetztem Vorzeichen: Die frohen Farben verblassen. Vor allem das Grün ist nicht mehr so grün und das Rot, seine politischen Pigmente langsam aushauchend, schimmert nur noch schwach rosa. Wenn überhaupt.
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