Gesamtdeutscher Schuh mit reißendem Absatz

Das VEB-Kombinat Schuhe kooperiert schon seit 1976 mit dem westdeutschen Salamander-Werk. Was in den Anfängen noch als Zusammenarbeit mit dem „Klassenfeind“ umstritten war, gilt heute als vorbildlich. In Eppendorf werden täglich 2.000 Paar Schuhe mit dem „Lurchi“ zusammengeschustert.  ■  Von Ulrike Helwerth u. Erwin Single

Der Eppendorfer Apotheker hat sein Schaufenster mit CDU -Werbung dekoriert. Rot sei zwar gut für die Liebe, heißt es da, aber schlecht für die Politik, und in der Mitte prangt ein Plakat wie aus der Werbung der Deutschen Bundesbahn: Wasserburg am Bodensee: Für eine bessere Zukunft - CDU.

Doch die Verlockungen der Bundesrepublik haben die Eppendorfer und Eppendorferinnen bisher ziemlich kalt gelassen. Nur wenige sind in den vergangenen Monaten aus dem 4.000-Seelen-Nest im Bezirk Karl-Marx-Stadt am Rande des Erzgebirges nach drüben abgehauen.

Warum eigentlich nicht? Reiner Görke zuckt mit den Schultern: „Wir haben immer gut verdient hier, wir Älteren haben uns doch was geschaffen, ein Häuschen, einen Garten, Kinder - das hält zusammen.“ Für den Mittfünziger, der seit 1952 als Lederfacharbeiter in der Eppendorfer Schuhfabrik „Kranich“ beschäftigt ist, war das Dableiben nie eine Frage. An der Lederstanze neben ihm arbeitet seine Frau. Sie nickt zustimmend. Betriebsleiter Rainer Albrecht weiß es genau: „Kranich hat bisher keinen einzigen Arbeiter verloren.“ Und darauf ist er nicht wenig stolz, denn „in unserem Kleinbetrieb geht es familiär zu, das Arbeitsklima ist gut.“

Die 500 MitarbeiterInnen der volkseigenen „Kranich„ -Schuhfabrik sind nicht weniger stolz auf ihren Laden. Und das nicht etwa, weil sie gleich zwölfmal hintereinander die Wanderfahne „Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit“ in ihre Werkskantine hängen durften, sondern weil seit einigen Jahren das „Salamander„-Zeichen ihre Schuhproduktion ziert. „Kranich“ ist einer der zehn Betriebe des VEB-Kombinats „Schuhe“, in dem Salamanders gesamtdeutsches Tretwerk zusammengenäht und geklebt wird. 2.000 Paar Damenschuhe der soliden aber biederen Art werden hier pro Tag fertiggestellt.

Kein ganz risikofreies

Unternehmen

„Lurchi“, das Markenzeichen des größten westeuropäischen Schuhherstellers aus dem baden-württembergischen Kornwestheim, hat einen ausgezeichneten Ruf im Osten. Mit ihm wehte ein Hauch von „Schick und Qualität von internationalem Standard“ in die DDR-Schuhproduktion, wie Wolfgang Bethe erklärt. Der 62jährige ist stellvertretender Direktor des VEB Kombinats Schuhe; zweiter Chef über 47.000 Beschäftigte und einer Jahresproduktion von 90 Millionen Paar Schuhen. Der massige Mann wirkt überarbeitet und gesundheitlich angeschlagen - vielleicht am Magen oder am Herzen, wo es Spitzenmanager eben erwischt. Doch in seinem schlichten grauen Anzug und seinem blauen Lada unterscheidet sich der realsozialistische Geschäftsmann noch von seinen kapitalistischen Pendants.

Wolfgang Bethe ist der „Macher“ der Kooperation zwischen Salamander und dem Kombinat, richtiger: der „Gestattungsproduktion“, wie das deutsch-deutsche Unternehmen schwerfällig genannt wird, das seit 1976 als vorbildliches Beispiel für Wirtschaftsbeziehungen zwischen BRD und DDR herhält.

Kein ganz risikofreies Unternehmen, was da vor 14 Jahren zwischen Kornwestheim und Leipzig eingefädelt wurde. „Entscheidend an dem ganzen Geschäft war, was am Ende herauskam, nämlich ordentliche Schuhe.“ Das war von Anfang an der Standpunkt des Prakmatikers Bethe. Auch ideologischer Übereifer des einen oder anderen vorgesetzten SED-Genossen aus dem Außenhandelsministerium brachte ihn nicht davon ab, sich mit den „Kapitalisten von drüben“ zum Wohle der DDR -Bevölkerung an einen Tisch zu setzen. „Wenn das Schuhangebot in den Läden nicht in Ordnung war, gab's nämlich viel Ärger“, so Bethe. Und das war nicht selten der Fall.

Schuld an allem

war der Genosse Honecker

Bei Schuhen läßt sich eben nicht selbst Hand anlegen wie etwa bei Kleidungsstücken. Das mußte schon bald nach dem Krieg auch der damalige Planungsminister und später für den Außenhandel zuständige Heinrich Rauh erkennen. Wenn die DDR -Schuhindustrie wieder einmal hinter dem Plan herhinkte, fragte Rauh seinen Bruder Adolf, zu jener Zeit Salamander -Betriebsratsvorsitzender in Kornwestheim, um Rat und Hilfe. Salamander stopfte die Marktlücken regelmäßig mit größeren Schuhlieferungen - über 20 Jahre lang.

Den Durchbruch zum „Lurchi„-Schuh unter Hammer und Zirkel aber ist einem anderen zu verdanken: Der ehemalige Staatsratsvorsitzende Erich Honecker marschierte auf der Leipziger Herbstmesse 1976 mit einer Delegation schnurstraks auf den Salamander-Stand zu und orderte höchstpersönlich für knapp 50 Millionen DM zwei Millionen Paar Schuhe für sein Volk. Noch im gleichen Jahr kam dann der Vertrag über eine „Gestattungsproduktion“ zustande: jährlich bis zu fünf Millionen Paar Schuhe aus der Salamander-Kollektion durften von nun an in Lizenz vom DDR-Kombinat hergestellt werden. Die Kornwestheimer lieferten das „know-how“ und alle technischen Unterlagen für die „Lurchi„-Modelle. Das Kombinat bezahlt dafür mit „cash“ in Valuta-Mark und nicht mit Chemie, Socken oder Strupfhosen, wie bei den Kompensationsgeschäften sonst üblich.

Die Salamander-Schuhe bleiben alle in der DDR. So schreibt es der Gestattungsvertrag vor. Doch das Schuhwerk ist teuer: Gut hundert Mark kostet ein Paar in einem regulären Schuhgeschäft; für ein Paar modische Stiefel im „Ex„-Laden muß man auch schon mal über 200 Mark hinblättern. „Wir sind eben kein Billiglohnland wie Indien“, erklärt Betriebsleiter Albrecht die stolzen Preise. Er verschweigt aber, daß der „Exquisitzuschlag“ auch ein gutes Geschäft für „Kranich“ ist.

Warum gerade

mit dem „Klassenfeind“?

Daß es besser sei, die Schuhe im eigenen Land zu produzieren, statt sie für teures Geld aus dem kapitalistischen Westen zu importieren, sahen die SED -Spitzengenossen wohl ein. Das Modellprojekt wurde dann auch von oben protegiert. Doch es rührte sich auch heftige Kritik. Mancher stramme Partei-Antikapitalist wehrte sich mit Händen und Füßen gegen eine Zusammenarbeit mit dem „Klassenfeind“. Auch die „Kranich„-Belegschaft wollte nicht so recht verstehen, warum mit den Kapitalisten, gegen die ständig gewettert wurde, nun Geschäfte gemacht werden sollten. Sie warnten ihre Direktoren gar davor, sich von der anderen Seite über den Tisch ziehen zu lassen. Heute glauben auch sie, daß der vor 15 Jahren eingeschlagene Weg der richtige war.

Bei „Kranich“ sind offenbar alle zufrieden. An den Stanz-, Näh- und Zwickmaschinen wird im Akkord gearbeitet, doch die Leute scheinen nicht so gehetzt zu sein wie ihre KollegInnen in bundesrepublikanischen Fabriken. Übernormerfüllung ist die Regel - nicht aus sozialistischer Gesinnung, sondern aus finanziellem Interesse. Im Schnitt kommen die ArbeiterInnen auf 900 Mark im Monat. Und bei „Kranich“ ist man stolz darauf, in punkto Produktivität mit Salamander im Westen mithalten zu können. Stechuhren gibt es nirgends im Betrieb. Wenn eineR zu spät kommt, schlagen die KollegInnen Krach auf ihren Maschinen oder den Leitungsrohren. Soziale Kontrolle.

Sehr gesprächig sind die Leute nicht, zumindest nicht mit den westdeutschen BesucherInnen im Schlepptau des Betriebsleiters und des stellvertretenden Kombinatsdirektors. Da helfen auch Rainer Albrechts Animationsversuche wenig. Vielleicht sind die Leute auch nur ratlos. Was sollen sie antworten auf die Frage nach ihrer Zukunft? Zu lange ist alles seinen geregelten Gang gegangen, und nun ändert sich die Perspektive fast täglich. Bei den meisten heißt die Devise: Abwarten.

Viele arbeiten

noch im Rentenalter

Bis zum Jahresende, meint Rainer Albrecht, wird es im Betrieb wohl keine einschneidenden Änderungen geben. Rationalisierungen in Planung und Verwaltung wurden dadurch aufgefangen, daß die Beschäftigten in andere Bereiche umgesetzt wurden. Was aber folgt dann? Sorgen müssen sich vor allem die älteren ArbeiterInnen machen. Das Durchschnittsalter der Belegschaft - 75 Prozent sind Frauen

-ist erstaunlich hoch. Unter den Frauen in bunten Nylonkittelschürzen, gibt es mehr als eine, die das Rentenalter bereits überschritten hat. „Die Frauen bleiben, weil sie mit ihrer schmalen Rente nicht hinkommen“, sagt Waltraud D., eine der Näherinnen. Sie ist 62 Jahre alt, 40 davon hat sie im Betrieb gearbeitet. Zukunftsangst? „Dafür bin ich nicht der Typ.“ Doch sie fragt sich heute schon: „Was hat unsere Generation eigentlich gehabt. Schließlich haben wir dieses Land mit aufgebaut, und jetzt erfahren wir, wohin unser Geld geflossen ist.“ Da könne man schon „ein bissel verbittert werden“.

Verstreut zwischen den deutschen Frauen sitzen junge Vietnamesinnen. 50 sind bei „Kranich“ beschäftigt. Die meisten sind seit zwei Jahren da, ihr Arbeitsvertrag läuft über fünf Jahre. Sie lächeln nicht so frisch und fröhlich wie das blumenbekränzte Mädchen im rosa Rüschenkleid auf dem vietnamesischen Kalender, der im Büro des Betriebsleiters hängt. Mit ihnen zu reden, ist schwierig. Die meisten sprechen - nach zwei Jahren - kein oder kaum Deutsch.

Für die Verständigung sorgt Hung, der Übersetzer. Das Wort „Aufpasser“ lehnt er ab, der Begriff „ältere Bruder“ ist ihm lieber. Er ist stolz, daß seine Frauen diszipliert arbeiten und bereits 130 Prozent der Leistungsnorm bringen. Diskriminierung, Rassismus? Hung betont die gute Atmosphäre im Betrieb. Auch in der Wohnsiedlung, 20 Kilometer von Eppendorf entfernt, in der 400 VietnamesInnen leben und in umliegenden Betrieben arbeiten, sei der Kontakt mit den Deutschen gut und freundlich. Eine der vietnamesischen Arbeiterinnen bei „Kranich“ hat vor wenigen Tag ein Mädchen zur Welt gebracht. Sie ist nicht - wie bis vor kurzem in einem Abkommen zwischen DDR-Regierung und vietnamesischer Botschaft festgeschrieben - während der Schwangerschaft nach Hause zurückgeschickt worden. (Nach diesem umstrittenen Vertrag blieb den Vietnamesinnen die Wahl zwischen Abtreibung und zwangsweiser Rückführung in die Heimat.) Sie kann nach dem Mutterschaftsurlaub an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, wenn sich für das Kind ein Platz in der Krippe findet, sonst wird sie es zu ihren Eltern nach Hanoi geben.

Stimmungsmache gegen 150prozentige gab es nie

„Wendehälse winden sich possierlich / langsam raus und eifrig wieder rein / Eine Drehung, die für sich natürlich / muß für uns Signal zur Vorsicht sein.“ Jemand hat dieses Gedicht mit einer Reißzwecke ans schwarze Brett in der Nähwerkstatt geheftet. Daß sich in diesem Betrieb seit November letzten Jahres jedoch viel gewendet hätte, ist nicht zu spüren. Inzwischen ist zwar die alte BGL, Betriebsgewerkschaftsleitung, abgesetzt und eine neue von der Belegschaft gewählt worden. Ein paar KollegInnen sind aus dem FDGB ausgetreten. Auch der ehemalige SED -Parteisekretär bei „Kranich“ wurde seines Amtes enthoben. Er arbeitet jetzt in einem anderen „Arbeitskollektiv“.

Stimmungsmache gegen ihn oder andere Hundertfünfzigprozentige habe es im Betrieb nie gegeben. Zumindest ist Silvia Oehme nichts dergleichen zu Ohren gekommen. Die 30jährige Diplomingenieurin für Schuhtechnologie ist die neue BGL-Vorsitzende. Vorübergehend - wie sie betont, nur so lange, bis sich für diesen Posten jemand anderes findet. Denn sie will zurück in ihren erlernten Beruf, der ihr mehr am Herzen liegt als ein Gewerkschaftsjob. Wird wieder eine Frau Vorsitzende werden? Sie könnte doch sicher die Interessen der überwiegend weiblichen Belegschaft besser vertreten. Silvia Oehme wirft der Fragerin einen irritierten Blick zu: „Da sehe ich eigentlich keinen Unterschied. Sicherlich wird's ein Mann werden.“ Es hat sich schon einer freiwillig gemeldet.

Betriebsleiter Albrecht betont, daß er und die Belegschaft an einem Strick ziehen. Das sei schon immer so gewesen: „Die Forderungen von der Basis waren immer darauf ausgerichtet, mit einer guten Arbeitsdiziplin eine gute Qualität und hohe Effektivität zu erreichen - so daß der Parteisekretär mir nie zwischen die Beine gegangen ist“, erklärt Albrecht. Er ist einer aus der Belegschaft und mit den meisten per Du. Vom „Zwicker“ hat er sich hinauf in die Betriebsleitung gearbeitet. Man sieht es noch an seinen Händen. Der Anzug will ihm nicht recht stehen.

West-Kollegen

um Autonomie beneidet

Wenn das Schuhkombinat demnächst seine Betriebe in die Selbstständigkeit entläßt und „Kranich“ dann eine Aktiengesellschaft werden soll, wie wird Albrecht mit seiner Rolle als „Ausbeuter“ umgehen? Den Ausbeuter weist er weit von sich. Eine AG könne man nicht mit privatkapitalistischen Betrieben vergleichen. Albrecht hat großes Interesse daran, daß sich seine Belegschaft in die AG einkaufen kann. Übrigens: Er war selbst in der SED - bis zum Austritt des Dresdner Oberbürgermeisters Berghofer.

Auch Wolfgang Bethe war 40 Jahre lang Genosse. Zwei Drittel seines Lebens hat er ein System unterstützt, das innerhalb weniger Monate wie ein naßgewordener Würfelzucker zusammenfiel. Ist das für ihn nicht wie ein Offenbarungseid? Doch, natürlich. Bethe macht sich keine Mühe mit ideologischen Rechtfertigungsversuchen. „Wie leite ich die Prinzipien kapitalistischer Marktwirtschaft auf die Schienen sozialistischer Planwirtschaft um?“ mußte sich Bethe tagtäglich fragen, wenn er auf dem „Umschlagplatz“ zwischen Plan und Markt das optimale Ergebnis herausholen wollte. Daß er bei dieser Transaktion oft auch ideologisch entgleiste, gibt er ohne Zögern zu: „Niemand war glücklich mit der übertriebenen dirigistischen und zentralistischen Planwirtschaft, die sich immer mehr auf Details aufbaute.“ Nicht selten beneidete er auch die Salamander-Manager in Kornwestheim um ihre Autonomie: „Da war keiner, der sie zum Rapport befohlen hat und anschließend anordnete, dies und das habt ihr zu machen.“

Bethe ist mehr denn je von der Richtigkeit des deutsch -deutschen Schuhdeals überzeugt: „Das hat Vertrauen hüben wie drüben geschaffen, und die Menschen sind sich näher gekommen.“ Als Experte ist er heute immer häufiger in anderen DDR-Betrieben gefragt, die ebenfalls eine Kooperation mit westdeutschen Partnerfirmen einfädeln wollen. „Gestattungsverträge“ wurden mittlerweile auch in der Textilbranche abgeschlossen.

Noch im Sommer vergangenen Jahres wurde das Abkommen mit Salamander um weitere fünf Jahre verlängert. Hatten die Kombinatsdirektoren die politischen Veränderungen in der DDR rechtzeitig vorausgesehen? Bethe verneint und spricht von einem „Glücksfall“. Der scheidende Salamander -Vorstandsvorsitzende Franz-Josef Dazert hatte unbedingt noch vor seinem Abtritt eine Verlängerung unter Dach und Fach bringen wollen. „Nach diesen Umwälzungen in der DDR hätten wir wieder ganz vorne anfangen können.“

So hat sich seit dem 9.November nichts geändert, und das soll so bleiben. Bethe befürchtet nicht, daß Salamander seinen Betrieb „aufrollen“ könnte. „Die haben doch alles, was sie brauchen“, meint er und fügt ohne falsche Bescheidenheit hinzu: „Welcher Betrieb in der BRD bekommt denn schon eine Zusicherung, daß seine Produkte über fünf Jahre hinweg abgenommen werden?“ Der Gestattungsvertrag umfaßt neben der Lizenzproduktion die Lieferung von knapp einer halben Million Paar Schuhe aus Kornwestheim in die DDR. Außerdem habe die DDR-Lizenzproduktion „für Salamander das ganze osteuropäische Hinterland erschlossen“. Bethe spielt dabei besonders auf die beiden Salamander -Gemeinschaftsunternehmen „lenwest“ und „belwest“, die mit den sowjetischen Partnern „Proletarischer Sieg“ und „Roter Oktober“ am Werke sind.