Gern hätt ich’s verpasst : Dr. Dr. grins Moral-„Papst“
„Richtig leben!?“, Mi., 21.45 Uhr, WDR
Klar lesen wir jeden Freitag das Magazin der Süddeutschen Zeitung, liegt ja nun mal bei, und klar lesen wir dann auch die Kolumne „Die Gewissensfrage“ von Dr. Dr. Rainer Erlinger, steht ja nun mal drin. Bei der Lektüre haben wir uns immer mal wieder gefragt: Was sind das eigentlich für Leute, die sich Rat holen müssen bei einem Herrn Dr. Dr. Erlinger, der ihnen dann zum Beispiel wie letzte Woche Auskunft erteilt über die Frage, ob ihr Sohn eine Prüfung schwänzen soll? Oder, ein andermal, ob man eine nicht abgestempelte Bahnkarte wiederverwenden darf? Oder den Blumenstrauß eines ungeliebten Verehrers weiter verschenken?
Die Frage, wer so einen Briefkastenonkel braucht, um sich durchs Leben zu finden, war zwar nie besonders drängend, aber es gab sie. Nie in den Sinn gekommen ist uns jedoch die Frage, wer dieser Dr. Dr. Rainer Erlinger eigentlich ist. Diese Frage hat nun der WDR beantwortet. Denn der WDR hat Dr. Dr. Rainer Erlinger im Zuge seines „Sommerprogramms“ eine eigene Show gegeben. Mit zwei Folgen! Warum nur, warum? Noch so eine Frage.
„Richtig leben!?“ heißt das Werk. Und, um es gleich zu sagen, es ist schrecklich. Dr. Dr. Rainer Erlinger trägt Glatze und cremefarbenes Sakko und steht in einer orangefarbenen Kulisse und grinst und sagt zur Begrüßung: „Das ist nicht irgendeine Sendung, sondern die moralischste Sendung im deutschen Fernsehen.“ Dann begrüßt er seine „sehr moralischen“ Gäste Wigald Boning, Ann-Kathrin Kramer und Konrad Beikircher.
Nichts gegen die Gäste: Denen ist nichts vorzuwerfen. Moralproblem auf Moralproblem lassen sie über sich ergehen: Soll man den geschenkten, aber hässlichen Pullover anziehen, um die Schenkerin nicht zu brüskieren? Soll man die beste Freundin verpetzen, die einem gestanden hat, dass sie einen Liebhaber hat? Was tun, wenn ein Pädophiler in die Nachbarschaft zieht? Die Gäste debattieren. Dann bricht Dr. Dr. Erlinger, grinsend, die Diskussion ab („Ich glaube, wir haben uns ein bisschen heiß diskutiert, oder zumindest warm diskutiert“) und spricht sein Urteil. Auf den Gesichtern der Gäste ist erfrischend unverholenes Desinteresse zu betrachten. Zwischendurch wird unter Dr. Dr. Erlingers Grinsegesicht die lustige Wortkombination ‚Moral-„Papst“ ‘ eingeblendet, dann sagt Dr. Dr. Erlinger: „Da fühlt sich jeder unwohl bei dem Film, wir auch, aber es ist eine moralische Frage.“
Und da hat er Recht. Es ist also noch anzumerken: Die Einspielfilmchen, mit denen die Moralprobleme illustriert werden, sind noch schlechter als Dr. Dr. Erlingers Moderationen. Und das ist leider das Netteste, was man über sein Fernsehschaffen sagen kann. STEFAN KUZMANY