Gemeinsames Lernen: Weder gefährlich noch bekloppt
Jugendliche mit Behinderungen beklagen Mobbing durch "normale" MitschülerInnen, schlecht ausgebildete Lehrkräfte und wollen die Sonderschule retten.
Es ist das erste Mal, das erste Mal, dass die Sonder- und FörderschülerInnen sowie die Jugendlichen mit Behinderungen, die in Integrationsklassen untergebracht sind, ein eigenes Forum des SchülerInnenrats auf die Beine gestellt haben. Über 100 von ihnen sind an diesem Mittwoch in das Landesinstitut für Lehrerbildung in Hamburg-Eimsbüttel gekommen um mitzudiskutieren. Im Fokus stehen alte Probleme und neue Entwicklungen: Ab Sommer dieses Jahres können Eltern in Hamburg wie auch in Bremen ihre Kinder mit Behinderungen nicht nur an einer normalen Grund- sondern auch an einer weiterführenden Regelschule anmelden. Inklusion statt "nur" Integration heißt die Devise.
Doch dass ein gemeinsames Lernen von Menschen mit und ohne Behinderungen kein Selbstgänger ist, zeigt der Erfahrungsaustausch unter den Jugendlichen, die hier in Eimsbüttel die rund 9.000 Hamburger SchülerInnen mit "sonderpädagogischem Förderbedarf" repräsentieren. Vor allem diejenigen, die in Integrationsklassen untergebracht sind, klagen, dass sie von ihren MitschülerInnen regelmäßig gemobbt, geschlagen und ausgegrenzt würden. Sie erfahren, dass andere ihre Behinderungen als "eklig" empfinden.
"Viele Mitschüler wissen am Anfang nicht, dass wir weder gefährlich noch bekloppt sind", sagt der 17-jährige Nico, der sich in einer Sprachheilschule auf das Abitur vorbereitet. Damit die Anwesenheit von Kindern mit Behinderungen "ganz normal" werde, müssten SchülerInnen besser vorbereitet und die Kennenlernphase am Schulanfang ausgedehnt werden.
Völkerrecht: Eine 2006 verabschiedete UN-Konvention verpflichtet alle Staaten darauf, die Bildung von Menschen mit Behinderungen diskriminierungsfrei in einem inklusiven Schulsystem zu gewährleisten.
Vollzug: Bremen, Schleswig-Holstein und Hamburg gehören zu den bundesweiten Vorreitern der inklusiven Schule. Niedersachsen hingegen ist eines der Schlusslichter bei Integration und Inklusion, will wegen des Elternwahlrechts an Sonder- und Förderschulen mittelfristig festhalten.
Auch an den LehrerInnen gibt es viel Kritik: Sie verständen es oft nicht, Kinder mit unterschiedlichen Begabungen und unterschiedlichen Lernniveaus individuell zu fördern, wären mal ungeduldig, mal gedankenlos, würden mal über- mal unterfordern. Fast einhellig beklagen die auf dem Forum versammelten Jugendlichen, dass es für LehrerInnen, die Kinder mit Behinderungen unterrichten, keine verbindlichen Fortbildungen gäbe. Wenn Hamburgs Schulsenatorin Christa Goetsch (GAL) am 5. Juli den KreisschülerInnenrat der Sonderschulen besucht, wird eine Fortbildungsoffensive eine der zentralen Forderungen des Gremiums sein.
Geduldig, fair und respektvoll - so wünschen sich die Jugendlichen den Umgang mit ihrer Person. Doch weil ein solches Miteinander allen hehren Ansprüchen zum Trotz in Integrationsklassen heute noch längst nicht Praxis ist, plädieren die meisten Jugendlichen an diesem Tag für die Hamburger Schulreform, die sechs Jahre gemeinsames Lernen als Kern hat, aber auch für den Erhalt der Sonderschulen, die viele PädagogInnen, die sich für fortschrittlich halten, als Gettoisierung begreifen, die es so schnell wie möglich abzuschaffen gelte.
Für die 17-jährige Sonja, die aufgrund ihrer Lese-Rechtschreibschwäche einst von der Schule gemobbt wurde und dann auf einer Sprachheilschule zur allseits beliebten Schulsprecherin und Abiturskandidatin aufstieg, ist es wichtig, dass "die Sonderschulen als Alternative weiterhin erhalten bleiben". Auch die Sonderschulpädagogin Elke Dohrn betont: "Für viele Schüler ist die Sonderschule mit ihren kleinen Klassen ein Schutzraum, in dem sie sich zu Hause fühlen."
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit