„Gell, die Francesca Habsburg meinst?“ : Unter gleich Gesinnten
Trendviertel Friedrichshain? Mal ehrlich, liebe Info-Elite: So eine echte Hammernachricht ist die Existenz Boxhagens nicht. Schließlich datiert das Quartier schätzungsweise aus jenen etwa 657 Jahre zurückliegenden Tagen, in denen in Cambridge das Pembroke College gegündet wurde. So etwas wissen jene Gelehrten, die ansonsten Bücher über die „Städte der Habsburger“ verfassen, meist. Doch aus heiterem Himmel entdecken sie jetzt ein „stadtbekanntes Szeneviertel“. Die Botschaft ist klar: „Verslumung“ droht, Sozialstaat ist leider gerade nicht daheim, Quartiersmanager greifen ein und helfen „unternehmerischen Einzelnen“ dabei, als Jungkreative den Kiez zu retten. Ende gut, Rendite gut, alles gut. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus!
So droht beispielsweise keine „Verslumung“ – und schon gar nicht in der Mainzer Straße, wo der „Brainworker“-Herrenhaarschnitt bei 21,50 Euro anfängt, DJ Tricky rares Breakbeat-Vinyl verkauft und in topsanierten Altbauten beispielsweise mit einem Fulbright-Stipendium versehene Absolventen der Georgetown University zu überteuerten Mieten wohnen. Was hingegen in Boxhagen und im weiteren Friedrichshain real droht, ist die Verelendung einer Gruppe, die im neuen Berlin der Jagdfelds und Beisheims keine Fürsprecher mehr findet: der Gäste der inzwischen geschlossenen Wärmestube des Roten Kreuzes im Nordkiez, der Nutzer des „Offenen Cafés“ der Wohnungslosenhilfe und der Kunden des „Sozialladens“. Wenn dort Nahrungsmittel nach dem Verfallsdatum und vor dem Verfall angeliefert werden, ist die Bude voll und die Freude groß. Berliner Durchschnitt eben – und verglichen mit einigen Gegenden südlich des Flusses, in denen gerne mal anlässlich von Stress oder Neujahr scharf geschossen wird und Messer wie Mundwerk lose sitzen, geht es sogar noch.
„Im Trend“ ist der Kiez allerdings ebenso wenig. Von seinen 18.492 Bewohnern sind zwar 8.705 „jung“ – also zwischen 18 und 35. Doch ist vor Ort irgendwer auch nur präsent, der einen veritablen Hipster abgäbe? Wohnzimmer-DJ Karel Duba zehrt von seinem Nachruhm, Plattenhändler Osti brummelt wie immer vor sich hin, und nicht mal die Kellnerin aus dem „Cibo Matto“ wohnt hier noch. Im Lovelite ist es abends noch immer nett, aber die Leute, die dort bei der Performance von Jonathan Meese auftauchten, warden nie wieder gesehen. Ansonsten gibt es einen einzigen „mittigen“, von einem Leuchter aus dem „WMF“ erleuchteten Laden, aber der ist immer leer. Und wenn man mal ganz viel Glück hat und Scottie und Sandra aus Brooklyn ein Essen geben, dann sitzt man zwischen einem norwegischen Politikwissenschaftler aus Cambridge, der am Pembroke College über transatlantische Sicherheitskonzepte promoviert, und einer schottischen DJane aus Oslo, die ihr Glück jetzt in Hoxton versuchen will. Aber so oder ähnlich säße man ja sonntagabends in der Scrabble-Runde bei Lundi in Camden auch – und seit wann ist Camden „im Trend“?
Vielmehr ist die Friedrichshainer Ökonomie ein Teil der Berliner Ökonomie: Jeder macht dauernd Geschäfte mit jedem, doch dienen diese viel weniger der Erwirtschaftung realer Gewinne als dem Anküpfen und Absichern sozialer Beziehungen, die den Beteiligten das gute Gefühl vermitteln, Teil eines großen Netzwerks gleich Gesinnter und der irgendwie arbeitenden Bevölkerung zu sein. So erwirbt man im Idealfall nach großem Handeln mit einem Nachbarn für einen Euro auf dem Flohmarkt einen Gegenstand, den man dann in einer nahe gelegenen Bar, in der die Möbel und alles andere zu erwerben sind, gegen einen Milchkaffee tauscht, was einem die Gelegenheit bietet, dort weitere Informationen einzuholen, die wiederum auf anderen lokalen Märkten weitergetauscht werden, bis am Ende jeder der Beteiligten auf den Regelsatz HLU (Hilfe zum Lebensunterhalt) plus Miete kommt – und wenn nicht, verkauft er Gegenstände auf dem Flohmarkt für einen Euro.
Hält man sich allerdings in jener nahe gelegenen Bar etwas zu lange auf, erscheinen die Dinge plötzlich in einem ganz anderen, edleren Licht, und man meint, sich in der Mike-Leigh-Verfilmung eines Stoffes von Jane Austen zu befinden: „Stolz und Vorurteil 2004 – Nichts mehr zu essen, aber einen Jagdhund!“ Nachfahren der Obersten Heeresleitung, Privatschulabsolventinnen und junge Menschen, denen all dies einmal gehören soll, tummeln sich dort während der Karrierepause. Auch der in der Sonntagstraße parkende Mercedes 280 SEL mit dem Aufkleber einer pflichtschlagenden und couleurtragenden Verbindung ergibt ziemlichen Sinn, wenn an einem der Hausbriefkästen zufälligerweise der Name eines hausverwaltenden Adelsgeschlechts (im Geschäft seit 1337) steht. Eine schlichte feindliche, bereits zu 50 Prozent vollzogene Übernahme proletarischen Terrains ist angesagt.
Und nachdem die bisher vor Ort tätigen Unternehmen diese nicht ordentlich hinbekommen haben, kümmert sich nun die bereits mit großen Prestigeprojekten wie den Hackeschen Höfen und dem Tacheles-Areal betraute Agentur New Roses darum. Daraus oder aus der Tatsache, dass der Quartiersmanager seine vor Ort tätige Immobilienfirma „Factor“ gerade noch rechtzeitig seiner Frau überschrieben hat, eine Trendgeschichte zu machen, geht eigentlich nicht wirklich: Bereits vor einem Jahrhundert haben in der „Hauptstadt von Filz und Korruption“ Großgrundbesitzer mit Bebauungsplänen gemacht, was sie wollten.
Wer jetzt eigentlich hinter all dem steckt und wohin das noch führt? Na ja – fragen wir doch mal die entzückende Agathe, die im Internetcafé am Wismarplatz jobbt, Multimediadesignerin ist, Attac „viel zu rechts“ findet und seltsamerweise zufällig auf einem internationalen Wiener Privatgymnasium war, ob sie zufällig Francesca (gemeint ist eigentlich die deutschbritische Diplomatentochter – aber das ist eine andere Geschichte) kennt. „Francesca? Gell, die Francesca Habsburg meinst?“ Nein, ausnahmsweise war die Erzherzogin von Österreich und Thyssen-Erbin nicht gemeint. Stelle sich das im Trendviertel Berlin-Friedrichshain und anderswo vor, wer kann. GUNNAR LUETZOW