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■ Gefahren und Chancen nach dem Ende der Rebellion„Noch gilt die Macht als gottgleich“

Peter Sergejewitsch Filippow, Jahrgang 1945, ist Leiter des Analysezentrums für Sozialökonomische Politik beim Präsidenten der Russischen Föderation. Er war auch russischer Abgeordneter, Kopräsident der Republikanischen Partei und Vizepräsident der Vereinigung privatisierter Unternehmen.

taz: Kaum ist die bewaffnete Rebellion unter „rot-brauner“ Führung abgewehrt, beginnen neue Streitereien innerhalb der Regierung...

Filippow: Die Ambitionen der Führer in Rußland sind sehr ausgeprägt, es gibt einen geradezu unbändigen Hang zur Führerschaft. Daher das Syndrom der Streitsucht. Ein Reformer wie Jawlinskij möchte unbedingt ans Ruder und wechselt deshalb die Seiten. Er geht zum [konservativen – d.R.] Unternehmerverband. Vizepremier Sergej Schachrai, auch er ein Reformer, gefällt sich in Rücktrittsdrohungen. Das kann unangenehm werden. Sehr gefreut habe ich mich über die Rückberufung Jegor Gaidars in die Regierung. Leuten wie ihm geht das Wohl des Landes über die eigenen Interessen. Wir brauchen dringend eine geschlossene Führungsriege.

Hat die Regierung jetzt die Möglichkeit, die Reformen konsequent durchzuziehen?

Alles hat sich vorher irgendwie auf das politische Zentrum [hauptsächlich repräsentiert durch die „Bürgerunion“ – d.R.] bezogen. Der größte Teil dieses Zentrums baut auf Staatsinterventionen und -subventionen. Sie wollten Kredite, und doch landeten diese Gelder in privaten Taschen und wurden fortgeschleppt, eben nicht in die Produktion gesteckt. Bei uns sieht jeder Manager den Staatsbetrieb als Mittel zur Bereicherung. Es ist die Norm in unserem Land. Wenn mir ein „Zentrist“ daher erzählt, wir müssen die mächtige Staatsindustrie erhalten, antworte ich ihm: „Gehen Sie los, bringen Sie ihre Schäfchen und die ihrer Leute ins trockene!“ So schnell wie möglich müssen wir daher privatisieren – sobald die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen sind.

Sie haben in der ersten Reihe gestanden, um den Widerstand der Putschisten zu brechen. Welchen Eindruck hatten Sie – war Jelzins Umgebung gut vorbereitet?

Als die bewaffnete Revolte losging, habe ich mich um 15 Uhr mit dem Büro Filatows, dem Leiter der Jelzin-Administration, verbinden lassen. Er war nicht da. Mir war sofort klar, daß sie die Lage überhaupt nicht kontrollieren. Blanke Panik herrschte. Ich fuhr nach Ostankino, da waren schon Ruzkois Landsknechte. Wo können wir hin, fragte ich Filatow übers Autotelefon. Er beorderte mich zum Haus des Radios, um die Unterstützung des Präsidenten zu organisieren. Wir verteilten wichtige Leute auf die verschiedenen Sender. Dann rief ich Poltaranin an wegen militärischer Sicherung. Was passiert, wenn wir jetzt angegriffen werden und ganze vierzig Milizionäre das Radio schützen? „Ich würde dir gerne mit Panzern aushelfen, ich hab nur keine zur Hand...“, meinte er.

Womit erklärt sich dieses absolute Chaos, nachdem klar war, daß Ruzkoi seit Tagen das Parlament in eine Wehrburg und ein Waffenlager verwandelt hatte?

Es gibt bei uns dieses Wort „awos“, das trifft es am besten. Unordnung, aufs Geratewohl etwas machen. Es ist seit einigen Jahrhunderten ein Schlüsselwort in unserer Geschichte. Man hatte sich entschlossen, etappenweise die Verfassungsreform anzugehen. Man hat tatsächlich angenommen, das Parlament würde nach einigen Tagen auseinanderlaufen. Dann hat die Regierung ihnen den Strom abgedreht und sich auf Verhandlungen eingelassen. Hier zeigt sich ihr Schwanken, das sich nicht erklären läßt. Die Verhandlungen brachten unsere Menschen aber nicht in Sorge, daß mit der Regierung etwas geschehen könnte. Als Jegor Gaidar die Menschen spätabends auf die Straße rief, hat er richtig gehandelt. Es war der einzige Weg, politischen Druck auf die Sicherheitsorgane und die Armeeführung auszuüben, die sich im Zustand tauber Neutralität befand. Abwarten lautete ihre Devise. Viele Leute und die höhere Generalität haben sich völlig anormal verhalten. Wenn ein normaler Mensch Zeuge wird, wie das Rathaus zerstört und das Fernsehzentrum angegriffen wird, fängt er doch an, sich zumindest zu empören. Die Zehntausende, die sich vor dem Stadtparlament zur Unterstützung der Regierung versammelten, stellten die Armee vor die Alternative: Wenn ihr mit diesen Anstiftern zum Pogrom nicht fertigwerdet, müßt ihr die Panzer gegen uns wenden. Die Armee mußte sich entscheiden.

Die Armee hat schließlich den Ausgang entschieden. Im Westen setzten ein halbe Stunde nach der Niederschlagung des Putsches die wildesten Spekulationen ein. Wird Jelzin degradiert zu einer Marionette der Militärs? Oder wird umgekehrt das Zögern der Armee für sie Konsequenzen haben? Wird abgespeckt?

Die Armee hat eine Masse eigener Probleme. Mittel aus dem Haushalt hat sie in vollem Umfang erhalten. Was möglich war, hat man ihr auch gegeben. Besonders wegen der Mentalität der Offiziere, deren Unverständnis für makroökonmische Zusammenhänge, können wir in der Armee keinen großen und unerschütterlichen Verteidiger der Reformen erwarten. Unsere Beziehungen sollten klar definiert sein, und wir sollten Distanz halten. Jeder versteht genau, warum die Armee nicht ins Entscheidungszentrum gehört. Machen sie ihnen mal klar, daß die ständigen Zuwendungen, die sie erhalten, die Subventionen, den Rubel schwächen. Sie wollen einen starken Rubel, aber fordern die ganze Zeit Hilfe. In dem Zustand, in dem die Armee sich zur Zeit befindet, wird sie nicht nach der Macht greifen, glaube ich. Ihr politisches Verständnis reicht immerhin soweit, daß sie sich hüten wird, die Rolle einer zweiten KPdSU zu spielen. Gefährlicher sind in diesem Sinne eher die lokalen Sowjets [Parlamente – d.R.], aber die Armee? Nein.

Im Westen wird der Staat von den Interessen einer starken, ausdifferenzierten Mittelschicht gestützt, die etwas besitzt, also etwas zu verlieren hat. In Rußland dagegen ist bislang das Fundament des Staates die Bürokratie, und die ist daran interessiert, ihre außerordentlichen Vollmachten im Prozeß der Privatisierung, bei der Vergabe von Lizenzen und Genehmigungen zu retten. Also – entweder sich Eigentum organisieren oder Bestechungsgelder kassieren. Diese Bürokratie, einschließlich der regionalen Eliten, will allmächtige Instanz bei der Privatisierung und Regulierung der Marktstrukturen werden. Selbstverständlich müssen sich dagegen die einfachen Leute aus der Produktion zur Wehr setzen.

Aber in unserem Land nimmt der Mensch die Macht schlechthin immer noch als etwas Gottgegebenes hin. Er könnte sich überall zu Wort melden, macht es aber nicht. Er trennt – die da oben und wir. Mein Beispiel überzeugt ihn nicht. Ich wurde Abgeordneter mit dem Megaphon in der Hand neben der U-Bahn in St. Petersburg... Nein, irgendwie kommt auch der von oben... Es wird noch lange dauern, bis sie begreifen, daß eigentlich sie es sind, die die Macht wählen, die ihnen zu dienen hat. Noch ist die Macht gottgegeben und gottgleich.

Es wird viel vom Zerfall Rußlands geredet, vom Separatismus der Regionen. Die meisten Sowjets haben ja auch zu Chasbulatow und Ruzkoi gehalten, zugegeben, solange es ungefährlich war. Sehen sie in diesen Tendenzen eine wirkliche Gefahr?

Meines Erachtens beschränken sich diese Tendenzen auf die Elite und die Sowjets. Natürlich liegt darin eine Bedrohung. Die Bevölkerung hat gegenläufige Interessen: einen großen einheitlichen Markt. Noch hat sich keine starke politische Kraft gezeigt, die diese Forderungen nach außen trägt. Man setzt immer noch darauf, daß der Präsident die Einheit des Landes sichert und garantiert.

Die Leute, die heute in den Sowjets sitzen, werden sich wohl allmählich auflösen, aber es kommen andere oder sogar wieder dieselben nach den Wahlen zurück. Das ist die wirtschaftliche Elite, die zu 70 Prozent weiter aus dem alten Parteipersonal besteht. Einige Putschisten aus der Ex-Nomenklatura wurden festgenommen, andere werden an ihre Stelle treten. Zwanzig Prozent unserer Bevölkerung bleiben der kommunistischen Ideologie verfallen, und viele Entscheidungsträger huldigen einem monopolistischen Weltbild. Die Gefahr eines Rückschlags ist nicht gebannt. Gerade wenn die soziale Differenzierung fortläuft und bei uns auf einmal Arbeitslose auftauchen. Bisher bewegen wir uns bei einem Prozent. Trotz allem bin ich überzeugt, selbst fünf Prozent Arbeitslosigkeit werden sich noch nicht destabilisierend auswirken. Ohne Arbeitslosigkeit können wir keine Reformen durchziehen.

Ein Aufschrei ging durch die Welt: Zensur!

Lassen Sie allen die Redefreiheit. Das ist die beste Garantie gegen alles. Aber können Sie sich in Frankreich oder in der Schweiz Zeitungen vorstellen, die jeden Tag die Regierung ein „Besatzungsregime“ nennen und ständig zum Umsturz aufrufen? Noch eine Bemerkung dazu. Wenn in Los Angeles der Ausnahmezustand verhängt wird nach Krawallen, wieviel von hundert Amerikanern fahren nach der Sperrstunde nach Hause? Na? Keiner! Und bei den Russen? Mit Sicherheit 70 Prozent. Und das, nachdem sie noch was getrunken haben. Und Sie im Westen sagen, bei uns herrschen brutale Maßnahmen. Gucken Sie sich mal an, wie die Polizei mit den Leuten da umgeht. Man pfeift doch bei uns auf die Macht. Unser Volk hört viel weniger auf das Gesetz. Wenn der Amerikaner mit der Polizei in Berührung kommt, denkt er zunächst mal, die werden im Rahmen ihrer Amtspflichten tätig. Und bei uns? Man schiebt dem Polizisten was in die Taschen.

Eine Prognose für die Wahlen im Dezember?

Das hängt vom Wahlkampf ab. Wir brauchen Profis, Juristen und Leute, die einen Haushaltsausschuß leiten können. Ich habe ziemliche Angst, unser neues Parlament könnte von Populisten beherrscht werden. Das Interview führte

K.-H. Donath

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