■ Gedanken zum Geschehen auf dem Balkan: Der Krieg als Opferritual
Die Teilnahme am Krieg bietet eine Art religiöse Erfahrung. Auf diesen Aspekt des Krieges verwies Roger Caillois, der im modernen Krieg einige der Grundfunktionen ausmachte, die in primitiven Gesellschaften Feiern zukommen. „Wie der Inzest auf einer Feier“, schreibt Caillois „ist der Mord im Krieg ein Akt mit religiösem Widerhall.“ Der Krieg ist die Zeit der Sakrilegien und der grenzenlosen Verschwendung und somit auch „das moderne und düstere Pendant zur Feier“.
Zu den Autoren, die den Krieg als ausgesprochen religiöse Erfahrung betrachteten, zählt Caillois Hermann von Keyserling und Erich Ludendorff. Für Keyserling ist der Krieg die dramatische Erfüllung von individueller Berufung und kollektivem, nationalem Schicksal. Er reiße den Menschen aus einer unwürdigen Stagnation im Frieden, wo er bis zur Verblödung dahinvegetiere und von dem Wunsch erfüllt sei, das niedrigste Ideal zu verwirklichen: den Schutz seines Eigentums. Der Krieg regeneriere die Nation, indem er ihre Angehörigen dazu zwinge, ein neues Schicksal auf dem Fundament riesiger und schrecklicher Ruinen zu errichten. Die Idee vom Krieg als Regeneration der Nation entwickelt auch Ludendorff, der Autor des Buches „Der totale Krieg“, wobei er zu dem radikalen Schluß kommt, daß Krieg und Nation in Wirklichkeit ein und dasselbe seien, denn die Nation bestehe aus einer Menge von Menschen, die Schulter an Schulter Krieg führten, und das Leben des Menschen und der Gesellschaft habe nur dann einen Sinn, wenn es der Vorbereitung von Kriegen gewidmet werde.
Aus dieser Perspektive betrachtet, verwandelt sich der Krieg in ein gigantisches Opferritual. Der Historiker des europäischen Nationalismus Jean Plumyène lenkt die Aufmerksamkeit darauf, daß vor noch gar nicht allzu langer Zeit das populäre, schulmäßige Verständnis von der französischen Nationalgeschichte von dieser Idee der wohltuenden Opferung der Nation im Krieg durchdrungen war. Sie war „eine Folge tragischer Episoden, wo Frankreich, über das die Gefahr hereinbricht, immer durch die Opferung eines einzelnen, einer Gruppe oder aller gerettet wird... Blut fließt, damit Frankreich lebe.“
Dieses Motiv der Opferung, die Bereitschaft, es ungeachtet des Preises zu akzeptieren, besonders die Bereitschaft, andere zu ermutigen, ihr Leben im Krieg im Interesse der Nation zu opfern, es dem „Altar des Vaterlandes“ darzubringen, ist heute ein Allgemeinplatz der kriegerisch-patriotischen Rhetorik verschiedener Führer der kriegführenden Stämme auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien. Für sie liegt der wahre Sinn des Krieges nicht in der Erlangung einiger irdischer Ziele, sondern in der „Auferstehung durch den Tod“, wobei sie die christliche Metapher von den Entsagungen von den Gütern diesen Lebens zugunsten des Himmelreiches in die Sprache der Kriegspropaganda übertragen.
Diese Glorifizierung massenhaften Opferns, Leidens und Sterbens findet auch in der zeitgenössischen patriotisch-kriegerischen Folklore ihr Echo, besonders dort, wo das Ausmaß des Leidens ihrer Helden und ihres Volkes offensichtlich nicht nur betont wird, um den Feind zu verurteilen und zur Rache aufzurufen, sondern auch um seiner selbst willen, denn hier bedeutet Opferung einen neuen Anfang, eine Reprise, einen neuen Akt zyklischer Opferungen, dem die Nation ihre Existenz verdankt. In dem Z. Ražnjatović Arkan von Miodrag Ž. Ilić gewidmeten „Poem an den großen Kämpfer“ liegt das Wesen der Heldentaten darin, daß er „das Leben hingibt, um uns das Glück zurückzubringen“. Das gleiche gilt auch für seine Kämpfer. In dem Gedicht „Die Recken Arkans“ von Svetomir Ilić Siki werden als größte Tugenden der „Recken“ nicht Kraft und Heldentum hervorgehoben, sondern die Bereitschaft, ruhmreich unterzugehen, sich zu opfern:
Wer wohl die wahren Recken
sind,
wissen die uns hassen:
für Serbien sind bereit,
ihr Leben zu lassen.
Nicht im Kaffeehaus, mein Sohn,
verteidigen sich Serben.
Stoße auf die Recken an,
während sie für dich sterben.
Auch die kroatischen Helden opfern sich gern, damit Kroatien lebe. Die folkloristischen Lieder rühmen neue Beispiele dieses heroischen Opfers und greifen die Erinnerung an Beispiele aus der älteren und neueren Vergangenheit auf. So wird in einem Lied der „Golddukaten“ aus dem Jahre 1989 die Erinnerung an den Mord an Stjepan Radić im jugoslawischen Parlament 1928 wiederbelebt, um das Motiv des für die Nation lebenspendenden Heldentodes zu betonen, und in diesem Fall Radićs Opferung für Kroatien:
Als Stjepan Radić im
Todeskampf schwebt,
ruft er den kroatischen Brüdern zu:
Oj Kroaten, meine lieben Brüder,
unsere Mutter Kroatien lebt!
In eine dem Moloch gleichende Gottheit verwandelt, verlangt die Nation die Opferung ihrer Kinder, um zu leben. Der Stamm des nationalen Lebens wächst nur auf dem Schlachtfeld, auf den Gräbern heldenhafter Ahnen. Auf diese heidnische Idee von der zyklischen Erneuerung des Lebens stützt sich heute die populäre Bestimmung des nationalen Territoriums als Territorium, auf dem sich die Gräber der Ahnen befinden. Damit läßt sich auch die Empörung erklären, mit der man auf Nachrichten von feindlichen Grab- und Grabsteinschändungen reagiert, und die Bedeutung, die man der Markierung und Weihung von Massengräbern aus dem Zweiten Weltkrieg beimißt. In beiden Fällen geht es darum, für die Erhaltung der sakralen Quelle des Lebens – des Grabes – Sorge zu tragen. Das wird in kerniger Manier im Lied „Kroaten und Kroatinnen“ (auch von den „Golddukaten“, 1989) ausgedrückt:
Aus den Gräbern unsrer
Urgroßväter werden wieder
kleine Keime wachsen.
Ivan Čolović
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