Gedanken zu Jens Spahns Pflegereform: Sterbt schneller, Senioren!

Gesundheitsminister Spahns Pflegereform hat eine helle, aber auch eine dunkle Seite: Der Druck auf Alte wird erhöht, in stationäre Pflegeheime zu gehen. Dort erwartet sie der Tod.

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Von UDO KNAPP

Immer mehr Alte leben immer länger und wegen der konstant niedrigen Geburtenzahlen gilt zumindest bis 2040: Immer weniger Junge müssen für diese Alten mit immer höheren Beiträgen ein sicheres, würdevolles, langes Leben finanzieren und organisieren. Das ist sind die demografischen Tatsachen.

„Jeder im Bereich der Pflege investierte Euro ist eine Investition in die Mitmenschlichkeit in einer alternden Gesellschaft.“

Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister

Die Pflegeversicherung, von Norbert Blüm 1995 auf den Weg gebracht und vom Bundestag beschlossen, war weit vorausschauend und dem solidarischen Miteinander der Generationen verpflichtet, die historisch angemessene Antwort auf die überproportionale Alterung der Bevölkerung. Aber die Pflegeversicherung ist bis heute nur eine Teilkaskoversicherung geblieben. Nur ein Teil der tatsächlichen Kosten wird aus der Pflegeversicherung bezahlt, den größeren Teil müssen bis heute die Pflegebedürftigen selbst aufbringen. Wenn sie es können. Angehörige müssen seit 1. Januar nur dann die Kosten übernehmen, wenn sie mehr als 100.000 Euro Brutto verdienen.

1995 wurden 1,5 Prozent monatlich vom Brutto jedes Einkommens für die Pflegeversicherung erhoben, heute sind es 3,05 Prozent  bzw. 3,3 Prozent für die Kinderlosen. In der Bundesrepublik gibt es im Augenblick 3,4 Millionen Pflegebedürftige. Davon werden rund 818.000 in 14.480 Pflegeheimen, etwa 690.000 von 14.050 ambulanten Pflegediensten und 1,4 Millionen von ihren Angehörigen zu Hause betreut. 1,1 Millionen Bürger arbeiten heute in der Pflege, davon 760.000 in den Pflegeheimen und etwa 400.000 in der ambulanten Pflege. Die Leistungen aus der Pflegeversicherung für den einzelnen Pflegebedürftigen werden auf Antrag über gesetzlich festgesetzte Pflegegrade festgelegt und zugewiesen. Das macht der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MdK) nach Prüfung der Pflegebedürftigen.

Rahmentarifvertrag und Qualitätskontrollen fehlen in der Pflege

In nur 25 Jahren hat sich in der Bundesrepublik ein breiter, freigemeinnütziger und privater Pflegemarkt entwickelt. Auf diesem kaum regulierten Pflegemarkt drücken die vielen privaten Pflegeanbieter die Preise, indem sie niedrigere Löhne zahlen und die Qualität einschränken. Die freigemeinnützigen Pflegeanbieter, vom Roten Kreuz bis zur Diakonie, zahlen freiwillig nach Tarif, aber einen verbindlichen, umfassenden Rahmentarifvertrag für die gesamte Pflegeindustrie gibt es bis heute nicht.

Die Qualität der Pflege wird vom MdK entsprechend staatlicher Vorgaben zwar geprüft, aber von einer echten eingreifenden Qualitätskontrolle nach allgemeingültigen, strengen Pflegekriterien kann keine Rede sein. Zusätzlich gibt es einen Pflegeschwarzmarkt, auf dem vor allem osteuropäische Frauen eingesetzt werden.

Von Anfang an war klar, dass bei den zunehmenden Zahlen an Pflegebedürftigen das heute geltende System der Pflege unterfinanziert ist. Anders als bei den Krankenkassen ist aber bisher noch nicht ein einziges Mal ein öffentlicher Zuschuss in die Pflegeversicherung gezahlt worden.

Stationären Einrichtungen haben sich zu Endstationen für Pflegebedürftige entwickelt

Die Pflegepolitik war in all den Jahren von dem Versuch bestimmt, einen Vorrang der ambulanten Pflege nicht nur zu beschließen, sondern auch in der Lebenspraxis durchzusetzen. Das ist nicht gelungen. Die stationären Pflegeinrichtungen haben sich in dieser Zeit, öffentlich gefördert, zu mehr oder weniger angenehmen, krankenhausähnlichen Endstationen für die Pflegebedürftigen entwickelt. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bis zum Tod beträgt hier etwa 16 Monate.

Die Kosten eines Pflegeplatzes in diesen Heimen reichen von etwa 2.500 bis 4.000 Euro im Monat. Diese Summen kann die Mehrheit der Pflegebedürftigen nicht aus ihren Renten aufbringen. Hier springt dann das Sozialamt ein. Den Pflegebedürftigen verbleibt ein staatlich festgesetztes Taschengeld. Der viel zu geringe Personalbesatz in diesen Häusern macht darüber hinaus eine persönliche, menschfreundliche Pflege unmöglich.

In der ambulanten Pflege bleiben die Pflegebedürftigen bis zu ihrem Tod in ihren eigenen Wohnungen und in ihrem gewohnten sozialen Umfeld. Rundum von Krankenschwestern und Pflegfachpersonal betreut, leben sie einfach länger und  können in Würde begleitet gehen. Die Kosten dafür sind im Durchschnitt niedriger als in Heimen.

Fortschritt in Richtung einer Vollkaskopflege

Neben diesen beiden Sektoren sind in den letzten Jahren, vorwiegend von den Freigemeinnützigen, ambulant begleitete Wohngemeinschaften entwickelt worden. 2017 gab es schon 3.120 solcher Wohngemeinschaften, davon waren 2.500 spezielle Demenz-Wohngemeinschaften. Mittlerweile beträgt der Anteil dieser Wohngemeinschaften an den stationären Pflegeinrichtungen schon 20 Prozent. Die Nachfrage nach Plätzen ist groß, aber in die Regelversorgung der Pflege sind diese Wohngemeinschaften bis heute nicht aufgenommen worden.

Faktisch war und ist die Pflegepolitik bis heute vom Vorrang der stationären Pflege bestimmt. Die Kosten der Pflege steigen, weil – mit guten Argumenten – fortwährend die Pflegeleistungen ausgeweitet, die Personalkosten zu Recht erhöht werden und die Zahl der Pflegebedürftigen zunimmt. Gesundheitsminister Jens Spahn hat nun vorgeschlagen, den Eigenanteil an den Pflegekosten für längstens drei Jahre auf 750 Euro zu begrenzen. Die Pflege zu Hause soll in der Bezuschussung für die pflegenden Angehörigen durch frei verfügbares Budget vereinfacht und um 100 Euro auf dann 3.400 Euro erhöht werden. Zur Pflege in den Heimen sollen nur noch Träger zugelassen werden, die mit den Pflegekassen verbindliche Tarifverträge vereinbart haben.

Diese Maßnahmen sind sicher ein Fortschritt in Richtung einer Vollkaskopflege. Denn wenn all diese Maßnahmen Gesetzeskraft erlangen, wird erstmalig ein Zuschuss aus dem Bundeshaushalt in Höhe von mindesten sechs Milliarden Euro nötig, was mit einer weiteren substantiellen Erhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung verbunden sein wird.

Der Druck, in die Heime zu gehen, wird drastisch erhöht

Aber bei genauerem Hinsehen wird vor allem durch die Deckelung der Zuzahlung auf 750 Euro der Vorrang der stationären Einrichtungen weiter festgeschrieben. Die Begrenzung des Deckels auf drei Jahre kalkuliert offen mit dem Ableben der Pflegebedürftigen innerhalb dieses Zeitraums. Mit diesem Angebot wird der Druck, in die Heime zu gehen, für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen drastisch erhöht. Zumal der Deckel weder für die ambulante Pflege noch für die Wohngemeinschaften gelten soll. Für 25.000 Euro Eigenanteil in drei Jahren sind die Alten in jedem Pflegeheim sicher auf den Weg in ihr Sterben gebracht. Dieser Vorschlag kann auch als offene Altersdiskriminierung interpretiert werden, die in der Corona-Pandemie immer deutlicher und offener auftritt. Immer wieder wird mit dem Gedanken gespielt, die Alten unter strengen Quarantäne-Regeln quasi wegzusperren.

Denkt man nun noch die durch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichtes stark erleichterte Sterbehilfe mit ärztlicher Begleitung hinzu, dann wird deutlich, dass hier der bisher geltende Generationenvertrag mit moralisierendem Gerede aufgekündigt wird. Die Alten stören, die Alten sind zu teuer, die Alten haben ihre Zeit gehabt und sollen doch bitte bei Pflegebedürftigkeit in mindestens drei Jahren sterben. So fühlt sich das zumindest an.

„Stirb schneller und störe unsere Kreise nicht“

Dabei gibt es andere Pflegeansätze, etwa in Dänemark. Hier gibt es ein grundsätzlich öffentliches, steuer- und abgabenfinanziertes Pflegekonzept, das von den Kommunen organisiert und betrieben wird und das zusätzlich noch mit dem Gesundheitssystem eng verflochten ist. Jeder alte Mensch bekommt hier die Pflege, die er braucht, ohne Ansehen der Person, seiner Lebensgeschichte und seiner Einkünfte. Einen privaten Pflegesektor gibt es nicht.

Das Konzept, das von Jens Spahn jetzt auf den Weg gebracht wird, verwandelt zwar die Pflegeversicherung faktisch und richtigerweise in eine Vollkasko-Versicherung, aber eben um den Preis des Verlustes jeder Wahlfreiheit im Pflegefall. Die Alten landen mit todbringender Sicherheit in einem stationären Pflegeheim. Stirb schneller und störe unsere Kreise nicht, wir erleichtern dir dafür deinen Weg in den Tod – auch das ist Spahns Botschaft.

Mit Mitmenschlichkeit hat das nichts zu tun. Es spricht die Herzenskälte.

UDO KNAPP, 76, ist Politologe.

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