„Gaza ist ein einziges großes Gefängnis“
■ Der israelisch besetzte Gaza–Streifen weist die zweithöchste Bevölkerungsdichte der Welt auf / Jüdische Siedlungen und palästinensische Flüchtlingslager auf engstem Raum / Den Israelis ist es am liebsten, wenn möglichst viele Palästinenser emigrieren / Fahrt in eine andere Welt / Gaza als „Hawaii Israels“ angepriesen
Aus Gaza Monika Warich
Als sich das Sammeltaxi dem Kontrollposten nähert, halten alle Fahrgäste den Atem an, doch der israelische Soldat neben dem hochgezogenen Schlagbaum schaut nur gelangweilt zur anderen Seite. Dahinter beginnt der Gaza–Streifen, eine andere Welt. Wo eben noch eine gut ausgebaute Straße war, rattern wir jetzt über eine löchrige Piste. Überall hängt Staub in der Luft. Am deutlichsten wird der Unterschied zu Israel an den vielen Menschen, die plötzlich die Straße bevölkern. Gaza, die einzige größere Stadt des Gaza–Streifens, mutet auf den ersten Blick an wie ein überfüllter Bazar. In drei Ortschaften und acht Lagern leben etwa 450.000 Palästinenser, dazu kommen etwas mehr als 2.000 Israelis in 18 Siedlungen. Mit 1.500 Einwohnern pro Quadratkilometer hat der Gaza– Streifen die zweithöchste Bevölkerungsdichte der Welt. Die Gegensätze zwischen israelischer Besatzungsmacht und palästinensischer Bevölkerung sind hier noch krasser als in der Westbank. Hier liegen die israelischen Siedlungen wie Festungen abgeschirmt und gesichert zwischen den Flüchtlingslagern. Häufiger als anderswo in besetzten Gebieten kommt es zu Widerstandsaktionen besonders von jungen Palästinensern, viele von ihnen Schü ler und Studenten, die nur die Besatzung, nicht mehr die frühere ägyptische Verwaltung kennen. Vor ihnen liegt eine Zukunft der permanenten Arbeitslosigkeit oder der Maloche in Israel. Gaza, zu deutsch „Nadelstich“, liegt am äußersten Südzipfel Israels, ist zwischen sechs und zehn Kilometer breit und knapp 50 Kilometer lang, umgeben vom Meer und zwei Wüsten, dem Negev und dem Sinai. Die Grenze nach Ägypten hin ist hermetisch abgeriegelt. Flüchtlingslager „Beach Camp“ Fatima hat zwölf Kinder, mit denen sie in vier Räumen lebt, die sich um einen kleinen Innenhof gruppieren, zusammen etwa 100 Quadratmeter. Mit der Familie teilen sich noch einige Hühner und zwei Ziegen das Haus. Es gibt hier, wie in allen Unterkünften des Flüchtlingslagers „Beach Camp“, keinen Wasseranschluß, so daß Fatima und ihre älteste etwa 15jährige Tochter Basma einen großen Teil des Tages damit zubringen, Wasser zum Kochen und Waschen von einer der öffentlichen Wasserstellen auf dem Kopf heranzuschleppen. Im Schlafraum stapeln sich, wie in traditionellen arabischen Häusern üblich, die Matratzen, die nachts zum Schlafen ausgelegt werden. Gekocht wird auf dem Hof über einem offenen Feuer. Basma sagt, sie wisse nicht genau, wo ihr Vater gerade sei, er arbeite als Tagelöhner in Israel und sei oft längere Zeit nicht zu Hause. Das „Beach Camp“ liegt direkt am Strand und besteht aus mehreren Hundert einstöckigen Häusern aus Betonsteinen, die Mauer an Mauer aneinandergrenzen. Wellblechplatten, die mit großen Steinen beschwert werden, bilden die Dächer. Im Gaza–Streifen fallen auch im Winter die Temperaturen selten unter 15 Grad, in den engen niedrigen Häusern ist es deshalb fast immer heiß und stickig. Die schmalen Gassen und wenigen breiteren Wege im Lager sind nicht geteert, so daß Autos und der Seewind ständig Staubwolken aufwirbeln, die Augen und Atemwege reizen. Die Arbeitlosigkeit im Gaza– Streifen ist extrem hoch. Außer in kleinen Handwerksbetrieben und Geschäften, in Zitrusplantagen und der Fischerei gibt es fast keine Arbeitsplätze. Der Fischfang ist allerdings nur in einer schmalen Zone vor der Gaza–Küste erlaubt, bei angeblichen Übertretungen wird der Fang vernichtet und das Boot oft für mehrere Monate beschlagnahmt. Die Zitrusproduktion leidet darunter, daß aus den besetzten Gebieten grundsätzlich nichts exportiert werden darf, was auch von Israel geliefert wird, und ist in den letzten Jahren ständig zurückgegangen. Die Bewohner des Gaza–Streifens haben keine Pässe. Einige besitzen ein ägyptisches Reisedokument, das nur von einigen Ländern anerkannt wird, andere verfügen über ein israelisches „Laissez– Passer“, das aber weder von arabischen oder islamischen Staaten noch von solchen Ländern akzeptiert wird, die Israel nicht offiziell anerkannt haben. Dann gibt es noch die grauen Flüchtlingsausweise. All diesen Papieren ist jedoch gemeinsam, daß in der Spalte für die Nationalität „unbestimmt“ steht. Man spricht von etwa 5.000 Universitätsabsolventen im Gaza– Streifen, die in ihrem Fach keine Arbeit finden können und von denen etwa zwei Drittel als Tagelöhner in Israel arbeiten, z.B. in Tel Aviv oder Haifa. Palästinenser aus den besetzten Gebieten dürfen jedoch nicht über Nacht in Israel bleiben, so daß viele von ihnen entweder illegal in Hinterzimmern übernachten oder extrem lange tägliche Fahrtzeiten auf sich nehmen müssen. Insgesamt arbeiten etwa 60.000 Personen aus dem Gaza–Streifen in Israel, 20.000 davon illegal. Besonders unter den jungen Arbeitern mit Universitätsabschluß nehmen Alkohol– und Drogenabhängigkeit zu, aber auch typische Krankheiten wie häufige Infektionen, Asthma und Depressionen, sagt Dr. Ghazaleh vom Gesundheitszentrum, das die UNO–Organisation für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) im „Beach Camp“ unterhält. „Sie werden früh alt und leiden unter der erzwungenen geistigen Leere“, fügt er hinzu. „Hawaii Israels“? Unterdessen geht die Landnahme der israelischen Siedler im Gaza–Streifen weiter, von der Weltöffentlichkeit kaum beachtet. Doch gibt es offenbar Schwierigkeiten, genügend Neusiedler zu finden. So wird Gaza vom israelischen Immigrationsbüro als „Hawaii Israels“ angepriesen, was angesichts der makellosen Sandstrände, des hier ziemlich sauberen Mittelmeeres und des fast immer sommerlichen Klimas sogar eine gewisse Berechtigung hat. Andererseits kratzen die heruntergekommenen Häuser, schlechten Straßen und die vielen ärmlich gekleideten Menschen an diesem Image. Sie nehmen gegenwärtig ein Drittel der Gesamtfläche des Gaza–Streifens von 258 Quadratkilometern ein und gleichzeitig das beste landwirtschaftlich nutzbare Gebiet. Kurz bevor man die unmittelbar neben dem „Beach Camp“ liegende israelische Siedlung erreicht, durchquert man einen breiten Streifen Land, das als zusätzliche Sicherheitszone dient. Trotz dieser erweiterten Sicherheitszone fühlen sich die Siedler offenbar immer noch bedroht. So ist es Ziel der Regierung, die Camps langfristig zu entvölkern, indem z.B. die Unterkünfte aller freiwillig oder gezwungenen Wegziehenden niedergerissen werden. Die Zerstörung von Wohnungen der Familien von sogenannten politischen „Aktivisten“ ist auch in Gaza eine gängige Bestrafung - im „Beach Camp“ gibt es rund fünf Fälle pro Jahr, sagt Christine Dabbagh von der UNRWA. Freiwerdende Plätze dürfen von den Zurückbleibenden nicht genutzt, geschweige denn bebaut werden, allenfalls können sie ihre Wäsche zwischen den Trümmern aufhängen. „Wir empfinden das hier als ein einziges großes Gefängnis“, sagt Abdul, ein 30jähriger Taxifahrer aus Gaza, „aber wir wissen auch, daß die Maßnahmen der Israelis das Ziel haben, möglichst viele von uns zur Emigration zu zwingen, denn sie wollen das Land ohne die Menschen. Deswegen müssen wir bleiben und Widerstand leisten, eine andere Chance haben wir nicht.“