■ Gastkommentar: Der große Knall
In der verkehrspolitischen Diskussion gibt es eine neue Lieblingsvokabel: der „Verkehrsinfarkt“. Wann immer über neue innerstädtische Verkehrskonzepte gestritten oder der Stau auf den Autobahnen beschworen wird, darf die Warnung vor und die Drohung mit dem Verkehrsinfarkt oder -kollaps nicht fehlen. Die taz hat im Rahmen ihrer lesenswerten Verkehrsserie mit dem „großen Crash“ und dem „Super-GAU“ auf den Straßen noch weitere Synonyme eingeführt. Alle Begriffe meinen dasselbe: Irgendwann werde das Verkehrswachstum ein Ausmaß erreicht haben, daß ein kritischer Punkt überschritten ist und es quasi naturgesetzlich zu einem großen Knall kommt – Endpunkt einer verhängnisvollen Entwicklung.
Die Annahme ist leider falsch. Sie zeigt aber sehr schön, welche Erlöser-Phantasien wir noch immer produzieren. Denn in der Beschwörung des Verkehrsinfarktes steckt auch die Hoffnung auf einen großen, erlösenden Befreiungsschlag, auf das reinigende Gewitter. Wenn alles noch schlimmer wird, dann muß ein Infarkt das schaurige Drama auf unseren Straßen beenden. Genauso wie der richtige Infarkt den gestreßten Workoholic mit einem Schlag in die Knie zwingt und ihm eine Zwangspause verordnet.
Genauer besehen, offenbart der Glaube an den „Verkehrsinfarkt“ nichts anderes als einen Mangel an Phantasie. Der Kasseler Verkehrsplaner Helmut Holzapfel hat als einer der ersten beschrieben, daß selbst das fürchterlichste Verkehrschaos noch steigerungsfähig ist. Auf eine Stadt wie Berlin bezogen, heißt das ganz konkret: Es wird bei einer fortgesetzten Autopolitik im Senat und einem weiteren Verkehrswachstum eben nicht zum großen Knall kommen, sondern zu Zuständen, wie sie schon heute täglich in Kairo, Tokio, Athen oder Mexiko-City herrschen. Und auch in diesen Städten gibt es übrigens weder den Infarkt noch den Super-GAU. Dort wird sich der Verkehr schlimmstenfalls zu einem Ausmaß entwickeln, wie es heute in Bangkok herrscht, wo Eltern bis zu vier Stunden unterwegs sind, um ihre Kinder von der Schule abzuholen. Doch selbst in Bangkok ist der große Crash bisher ausgeblieben. Statt dessen gibt es täglich Tausende kleiner Crashs und Millionen von schwer gestreßten, lärmgeschädigten, verkehrsgehetzten Menschen, die es sich nicht mehr vorstellen können, daß auch in ihrer Metropole der Stau noch länger, das Getöse noch grausamer werden kann.
Der Begriff des Verkehrsinfarkts hat aber noch eine andere verhängnisvolle Implikation. Infarkte lassen sich bekanntlich vom Chirurgen mit dem Einsetzen eines Bypass beheben. Analog dazu müßte der Verkehrsinfarkt dann mit neuen Autobahnen und Umgehungsstraßen bekämpft werden. Auch hier zeigt sich die Untauglichkeit des Vergleichs. Denn bis auf den Verkehrssenator Haase wissen die Verkehrsplaner: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten. Und: Beim Taubenfüttern kommen immer mehr. Anstatt den Verkehrsinfarkt zu beschwören, sollten wir's vielleicht mit Georg Kreisler halten: „Geh'n wir Tauben vergiften im Park!“ Manfred Kriener
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