GUT ZEHN JAHRE NACH IHRER PROKLAMATION ERREICHT DIE „NEUE ANSTÄNDIGKEIT“ BERLIN : Überzeugungstäter nutzen den Postweg
VON JAN JOSWIG
Die Mischung macht’s. Gibt man zu viel Bier in die Nuckelflasche, dreht der Krümel auf, krakeelt die ganze Nacht und hält mich am Gitterbett gefangen. Stimmt aber die Dosierung, schläft er zuverlässig. Letzten Samstag haute die Mischung hin. Während der Krümel sich mit dem wässrigen Bier in den Schlaf nuckelte, kippte ich mir als Muntermacher drei zimmerwarme Wodka (im Winter stelle ich immer den Kühlschrank ab) hinter die akkurat geknotete Binde von „Edsor Kronen“, dem Traditionsunternehmen für Seidenfliegen aus Kreuzberg.
Man kann auch auf die Berliner Marke „Stange“ setzen, obwohl die sich mit zu vielen Polyestermodellen leicht in Verruf gebracht hat. Aber obligatorisch ist ein Binder, denn die „Neue Anständigkeit“ erreicht Berlin, gute zehn Jahre nach ihrer Proklamation. Einladungen werden wieder per Post verschickt. Vorfreude packt einen, wenn man den Postmann sein Fahrrad aufbocken hört, nicht beim Ping des Facebook-Mail-Eingangs. Zur Präsentation seines neuen Herrenparfüms im Georg-Kolbe-Museum lädt Wolfgang Joop per Päckchen, das eine limitierte Skizze aus seiner Hand auf Keilrahmen enthält. In dem Personen-Tohuwabohu glaube ich oben, dritter von rechts, mein Konterfei zu erkennen. Ganz klar, nur ohne Bart, ohne Brille und mit griechischer Nase, aber so würde ich mich selbst auch immer porträtieren. Auch die Überzeugungstäter von „Disco on the Run“ nutzen den Postweg und schicken zu ihrer Loft-Party eine Karte mit Silberglitzer und der Fingerspitzenformulierung: „Sprinkle stardust in your hair, we long to be, close to you“.
Statt Sternenglitzer im Haar bestimmt Schweißwasser auf den Fenstern die Atmosphäre, es gibt keine bemannte Garderobe und die Bar ist hoffnungslos unterbesetzt. Aber man wird nicht gefilzt, kann also sein Kioskbier reinschmuggeln. Jemand mit einer Polyesterkrawatte brüllt mir ins Ohr: „Ist dir mal aufgefallen, jetzt echt, dass in der einen Woche Robert Enke Suizid begeht und in der nächsten der Fußball-Wettskandal auffliegt?“ „Was für eine perfide Unterstellung“, schnaufe ich.
Ich sehe auf die Latexwaden vor mir und bekomme Heißhunger auf Auberginen. „Ich sag’ dir, wie es ist. Zu Knut Hamsuns Zeiten hat man als Journalist für ein Feuilleton zehn Kronen erhalten“, grübelt ein JD-Samson-Fan mit aufgemaltem Schnäuzer, während sie an meinem Kioskbier nuckelt, „eine Mahlzeit kostete etwa eine halbe Krone. Zwanzig Mahlzeiten für ein Feuilleton. Das wären heute etwa 200 Euro. Wer verdient denn noch 200 Euro mit einem Feuilleton?“ „Alle Journalisten sollten schnellstens die Meridian-Energie-Techniken zur Erfolgsmaximierung erlernen. Sonst kommt es in der Zunft noch zu einer Enke-Trittbrettfahrer-Mode, wie Pastor Stefan Niggemeier auf seinem Blog ganz pietätsduselig warnte“, werfe ich ein. Dann mache ich mich auf, weil ich am Sonntag noch meinen nächsten Feuilletonbeitrag für 50 Euro (40,80 Euro ganz genau) in die Tasten hacken muss.
Als ich nach Hause komme, höre ich schon auf dem letzten Treppenabsatz den Krümel schreien. Sein Gesicht ist bereits blau statt rot angelaufen, die kleinen Fäustchen sind weiß verkrampft. Seit wann das wohl so geht? Da werde ich morgen wieder ordentlich was von den Nachbarn zu hören kriegen. Ich hatte gleich geahnt, dass es kurzsichtig wäre, das bittere Jever-Bier zu nehmen.