GLEIS 10 : Die Verzweiflung
Letzten Sonntag war ich in Cottbus. Um sieben musste ich aufstehen, um den Zug zu kriegen, der um 8.34 Uhr am Gesundbrunnen abfahren sollte. Laut Internet. Das Einzige, was mich wunderte, war, dass da gar kein Gleis stand.
Sonntag früh um acht radle ich verschlafen in den Wedding. Ich gucke auf den gelben Abfahrtsplan. Nichts. Ich laufe die zehn Gleise ab. Nichts. Der nächste Zug fährt um 8.38 Uhr von Gleis 6 nach Schwedt. Ich merke, wie mir das Adrenalin in die Adern schießt. „Scheiße!“, denke ich. Trotzdem fange ich noch nicht an zu heulen. „Service Store!“, schießt es mir durch den Sinn. Zwei Damen mit identischem Haarschnitt langweilen sich hinterm Tresen. Eine verspeist eine Mischbrotstulle. „Hallo, Entschuldigung“, stürme ich den Laden, „mein Zug steht gar nicht dran. Nach Cottbus?“ – „Gleis 10!“, raunzt die Frau mit vollem Mund. Mittlerweile ist es 8.29 Uhr. Als ich unten auf dem Bahnsteig stehe, verkündet die Anzeige von Gleis 10, der Zug nach Stralsund Hauptbahnhof werde erst 8.53 Uhr erwartet. Mir ist ganz doll warm plötzlich.
Vielleicht hab ich die Frau nicht richtig verstanden wegen der Stulle, denke ich, vielleicht hat sie „Gleis 7!“ geraunzt. Also haste ich die Rolltreppe wieder nach oben und rüber auf Gleis 7. Da steht irgendein ICE, der erst 8.43 Uhr weiterfahren soll. Die Uhr zeigt 8.31 Uhr. In drei Minuten fährt mein Zug, und ich weiß nicht, wo! Ich reiße mich zusammen, während mir der Angstschweiß übers Gesicht läuft. Erwähnte ich, dass mein Rucksack voller Bücher steckt?
Ich laufe zurück zu Gleis 10. Es ist 8.32 Uhr. Auf der Anzeigetafel wird eine Zugdurchfahrt verkündet. Ich wimmere vor Verzweiflung. Ganz langsam fährt der Zug in den Bahnhof ein. Vorne an der Lok steht in gelben Lettern „RE Cottbus“.
Der Zug hält, ich steige ein. Mein Wollpullover ist nass vom Schweiß. LEA STREISAND