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GEWALT GEGEN MUSLIME BRINGT INDIENS SELBSTBILD IN EINE SCHIEFLAGEHindu Dschihad?

Indien ist stolz auf seine multireligiöse Kultur und den in der Verfassung verankerten Säkularismus. Seit der Gründung des Staats und der Abtrennung Pakistans im Jahr 1947 beharrt das Land auf dem Anspruch, dem ungeliebten Nachbarn mit seiner islamischen Staatsreligion moralisch um Längen voraus zu sein. Selbst Hindu-Politiker werden nicht müde, über den Grenzzaun zu rufen, wie wohl sich 130 Millionen Muslime unter dem Dach des Hindu-Pantheons fühlen. Doch das ist immer eine Fiktion gewesen. In den vergangenen fünfzig Jahren kam es immer wieder zu Gewaltausbrüchen. Sie erreichten 1992 ihren Höhepunkt, als ein Hindu-Mob eine Moschee stürmte.

Immerhin: Seit dem Progrom gab es beinahe zehn Jahre lang keine Religionskämpfe mehr. Schon glaubten die liberalen Eliten Indiens, ihre Wirtschaftsreformen hätten die atavistischen Instinkte der Bevölkerung im Bad wachsenden Wohlstands aufgelöst. Doch die von der Globalisierung bedrohten kulturellen und sozialen Reflexe sind in den hartnäckigen Kastenstrukturen erhalten geblieben. Zudem hat die Globalisierung eine Masse von sozial entfremdeten Arbeitslosen geschaffen, die sich willig für jede Ideologie einspannen lassen, die Gemeinschaft bietet und verspricht, individuellen Besitzhunger zu befriedigen.

Der jüngste Gewaltausbruch bringt das multikulturelle Selbstbild Indiens in eine arge Schieflage. Nach dem 11. September hatte sich das Land unter die Fahne der weltweiten Anti-Terror-Koalition geschart. Die Politiker in Dehli hofften, damit den ungeliebten Nachbarn in die Ecke zu drängen, der mit seinem religiösen Extremismus dem Terrorismus Vorschub geleistet hatte. Nun muss sich Indien ausgerechnet vom pakistanischen Präsidenten mahnen lassen, seinem eigenen religiösen Extremismus nicht auch noch Vorschub zu leisten. Es ist eine berechtigte Mahnung, auch wenn sie politischem Kalkül entspringt. Der schmerzhafte Prozess von Modernisierung und Globalisierung darf nicht auf dem Buckel unschuldiger Menschen abreagiert werden. Damit macht man die ein zweites Mal zu Opfern. BERNHARD IMHASLY

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